Die Alchemie der Naehe
starrtest mitten im Flur, die Segeltuchtasche schon in der Hand. Dachte sie etwa, nach einer Nacht sei deine Wut verraucht, und du wärst bereit, zu ihr zurückzukehren? Nur weil sie wieder Lust auf Sex hatte? Nein, meine Liebe, so lief das nicht!
Sie lachte ungläubig. Gleichzeitig schüttelte sie den Kopf und legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Du bist tatsächlich immer noch sauer wegen gestern?« Scheinbar lachte sie dich aus.
Daraufhin suchtest du verzweifelt nach den richtigen Worten. Aber anstatt wütend zu klingen, was deiner tatsächlichen Gefühlslage entsprochen hätte, schwang so etwas wie Resignation in deiner Stimme mit. Hinter deiner Wut verbarg sich nichts weiter als eine Wüste der Ernüchterung. Deshalb fingst du wieder mit deiner alten Leier an: »Selvaggia, als ich dir gesagt habe, dass ich dich liebe, war das ernst gemeint. Wenn hier jemand Spielchen spielt, dann du! Glaubst du wirklich, du kannst so mit den Leuten umspringen? Ich weià ja nicht, wie das in Genua war, aber hier funktioniert das nicht. Ich habe ganz bestimmt nicht vor, jemandem eine zweite Chance zu geben, der mich nicht wirklich zu würdigen weiÃ. Und bevor du mir jetzt antwortest, zähl bitte bis hundert!«
Gleich darauf standst du auch schon drauÃen und ignoriertest ihre Proteste. Auf so ein ungleiches Spiel würdest du dich nicht einlassen. Wenn sie deine Mindestanforderungen nicht akzeptierte â bitte sehr! Du warst ohnehin dabei, sie dir für immer aus dem Kopf zu schlagen.
Bei deiner Rückkehr war es dermaÃen still, dass du dachtest, niemand sei zu Hause. Deshalb machtest du deine Heimkehr nicht groà publik.
Oben in deinem Zimmer hast du dich fünf Minuten erholt und durch die Sender des kleinen Fernsehers gezappt. Aus Ent täuschung über das unterirdisch schlechte Medienangebot hast du überlegt, nach unten zu gehen, im Internet zu surfen und so die Zeit totzuschlagen. Aber als du im Flur warst und sahst, dass die Tür zu Selvaggias Zimmer wieder mal offen stand, wolltest du einen kurzen Blick hineinwerfen. SchlieÃlich war das Zimmer deiner Schwester leer. Erst kurz darauf hörtest du nach ausgiebigem Lauschen die Dusche: Deine Schwester war also im Bad und würde nicht so bald zurückkommen. Da betratst du das Zimmer mit der kranken Idee, deine Nase in ihre Angelegenheiten zu stecken. Einfach nur so, weil du keine Lust hattest, dich um deinen eigenen Kram zu kümmern.
Nervös hast du kurz in ihrem alten Schulkalender geblättert, aber darin standen nur Hausaufgaben und Widmungen von Freundinnen. Du wusstest ganz genau, dass du an stands- und respekthalber niemals in ihrem Privatleben hättest herumschnüffeln dürfen. Aber du konntest einfach nicht anders. Du musstest dich revanchieren, eine gewisse Macht über sie erlangen. Du hattest nicht das geringste Recht dazu, glaubtest hingegen als ihr Bruder eine gewisse Autorität zu besitzen. SchlieÃlich warst du derjenige, der ihr am ähnlichsten, ja am nächsten war. Jedenfalls war dir nicht klar, wie besessen du von dem Gedanken warst, gewaltsam in sämtliche Windungen ihres Lebens eindringen zu wollen: Die Leidenschaft, die du für Selvaggia empfandst, trübte dein Urteilsvermögen.
Aus Unzufriedenheit über deine Nachforschungen hast du in ihren Schubladen, in ihrem Schrank gewühlt, bis du die Grenze überschrittst und ihr Handy kontrolliertest. Du last sämt liche SMS durch, die Wochen, wenn nicht Monate alt waren und noch aus ihrer Zeit in Genua stammten. Sie schienen belanglos zu sein bis auf eine ziemlich unanständige von ihrem Exfreund, der sich peinliche Details nicht verkneifen konnte. Vielleicht fand er das romantisch, aber in deinen Augen war die Nachricht einfach nur anmaÃend und vulgär.
»Was machst du denn hier?« Selvaggias Stimme drang an dein Ohr und lieà dich zusammenzucken. Sie trug einen Bademantel und rubbelte sich die Haare trocken. Sie war eindeutig auÃer sich, doch so bekam sie wenigstens auch mal zu spüren, was du in den letzten beiden Tagen durchgemacht hattest. Wenn du dir Respekt verschaffen wolltest, blieb dir leider nichts anderes übrig, als ihr wehzutun. Das mochte ein Fehler sein, ein äuÃerst durchsichtiger sogar, aber in diesem Moment hieltst du das für eine gute Idee. Erst viel später solltest du begreifen, dass diese Rachegelüste, der Wunsch, es ihr heimzuzahlen, einfach
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