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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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Resignation.
    Â»Andererseits: Warum suchen wir überhaupt nach einem Sündenbock? Vielleicht ist es ja nur ein Zusammentreffen unglücklicher Zufälle, das bewirkt, dass wir so gut wie keine Zukunftsperspektiven haben und kaum noch mit unseren Eltern reden können? Keine Ahnung, aber das könnte doch auch sein.«
    Â»Meiner Meinung nach ist das alles viel eindeutiger, als du denkst«, sagte sie. »Es gibt durchaus Leute, die direkt dafür verantwortlich sind! Wenn wir unglücklich, verletzlich und voller Schuldgefühle sind, liegt das bestimmt nicht an unserer Regierung. An unserer Mutter hingegen sehr wohl.«
    Aus irgendeinem Grund verletzten dich diese Worte Selvaggias. Schließlich waren eure Eltern auch nicht allmächtig und konnten nicht alles richten. Genauso wenig konnten sie alles kaputt machen. »Liebling«, sagtest du und streicheltest ihren Hals. »So unglücklich bist du doch auch wieder nicht. Und unsere Mutter ist einfach bloß unsere Mutter und macht sich wahrscheinlich dieselben Sorgen wie wir. Wir sollten nicht übertreiben! Bei so komplexen Problemen gibt es nie nur einen einzigen Schuldigen.«
    Sie stieß einen verbitterten Seufzer aus und schwieg. Da es dir nicht gelang, sie aufzuheitern, dämmerte dir plötzlich, dass eure Eltern vielleicht doch schwere Schuld auf sich geladen hatten. Vielleicht nicht in dem Ausmaß, wie von Selvaggia behauptet, die sie erbarmungslos verurteilte. Aber sie hatten euch immerhin vernachlässigt.
    Daraufhin schwiegst du, gabst dich ebenso staunend wie bewundernd geschlagen, weil sie das alles durchschaut und dir klargemacht hatte. Da packte dich eine Wut auf das Leben und die Erwachsenen, die ihr Erziehungsversagen dadurch kompensierten, dass sie ihren Kindern etwas Geld gaben – ganz so als könnte so etwas Lächerliches das enorme Unrecht wiedergutmachen, das man euch angetan hatte. Weder mit ihren Geschenken noch mit guten Tischmanieren ließ sich die riesige Leere füllen, die durch ihre Versäumnisse entstanden war.
    Da ihr Leben fast nur aus Arbeit bestand, konnte es passieren, dass bis auf Fragen wie »Wann kommst du am Samstagabend nach Hause?« keinerlei Kommunikation stattfand: Das sahst du bereits an deinem Vater! Eure Beziehung hatte stets unter dieser unüberwindbaren Mauer respektvollen Schweigens gelitten. Und ebenso an eurer Mutter, die Selvaggia zufolge nie da gewesen war. Auch hinter euren höflichen Floskeln, die ihr im Laufe des Tages so vom Stapel ließt, lauerten bestimmt abgrundtiefe Wut und Enttäuschung. Es gab also Leute, die wütend und nervös waren, aber trotzdem glaubten, dass man etwas ändern konnte – du zum Beispiel. Und solche, die tief verletzt waren, ja vollkommen resigniert hatten wie Selvaggia. Ausgerechnet die Person, die du über alles liebtest und von der du nur sagen konntest: Hauptsache, sie lebt, und es gibt sie! Oder vielleicht auch: Hauptsache, sie überlebt hinter der Maske des braven Töchterleins: fleißig in der Schule, gut erzogen, auf den ersten Blick gehorsam und in gewisser Weise perfekt. Doch wenn sie versuchte, wirklich zu leben, war das etwas ganz anderes. Dann entwickelte sie diese zerstörerische Kraft.
    Weil du ihre Gedanken lesen konntest, platztest du beinahe vor Wut. Und starbst fast bei der Vorstellung, sie könnte dir damit sagen wollen, eure Liebe – die dir mehr bedeutete als alles andere – sei nur eine Kurzschlussreaktion, eine bloße Folge der Misere, zu der ihr alle verdammt wart. »Wenn du tatsächlich glaubst, dass unsere Liebe nichts Besonderes, nur von uns Ausgehendes ist, dann lass dir Folgendes gesagt sein, Schwesterherz: Dann bringe ich mich um . Denn wenn du glaubst, dass unsere Liebe nur eine Art Wahn ist, eine Misere, übernimmst du eine Verantwortung, die du lieber nicht übernehmen solltest.«
    Daraufhin riss sie sich zusammen, zog dich an sich und küsste dich. Als sie dich ganz aus der Nähe ansah und eure Gesichter nur noch eine Handbreit voneinander entfernt waren, sagte sie: »Hätte ich gewusst, dass ich dir solche Angst mache, ja hätte ich geahnt, dass du das nicht packst, hätte ich mit diesem Mist gar nicht erst angefangen.« Sie lachte, und ihr Atem vermischte sich mit deinem.
    Â»Glaubst du etwa, nur ein Wahn hält uns zusammen?«, fragtest du flüsternd, als wäre dir schon der Gedanke zu viel. »Ich liebe dich

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