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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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Inzwischen warst du Johnny – eine wunderbare Verwandlung, die einzig und allein auf Selvaggia zurückzuführen war.

49
    Weißt du noch? Weißt du das noch? Die letzten Septembertage waren heiß und sonnig. Selvaggia und du nutztet das schöne Wetter, um im Freien zu essen und das letzte Aufbäumen eines Sommers zu genießen, den ein launischer Herbstwind bald davonfegen würde.
    An diesem Nachmittag wart ihr gleich nach der Schule eine Pizza essen gegangen und hattet einvernehmlich beschlossen, danach in den Park zu gehen. Die Natur war auch in euren Augen einfach herrlich: Wenn ihr dem Vogelgezwitscher und dem Wind in den Zweigen lauschtet, war alles gut. Man sollte meinen, dass das ein bisschen zu lyrisch und langweilig klang für zwei junge Menschen wie euch. Aber eure Jugend musste sich darüber klar sein, dass ihr eine verwerfliche, gefährliche Liebe lebtet und sich über euren Köpfen etwas zusammenbraute, das sich über anderen Jugendlichen nicht zusammenbraute.
    Ihr erreichtet den Park und zogt euch hinter Bäume zurück, deren Zweige ein dichtes Blätterdach bildeten. Es war, als wärt ihr in einer Krypta: Der Stadt- und Verkehrslärm erreichte euch nur gedämpft aus der Ferne, während ihr die Blätter eurer provisorischen Pflanzenbehausung rauschen hörtet. Ihr saßt beide auf einer Bank, und während du weit über dir ein winziges Stück Himmel betrachtetest, das so tiefblau und klar war wie frisch nach dem Regen, war Selvaggia scheinbar ganz in ihr Buch vertieft. Ihr Hals war wie die Stängel junger Tulpen sanft nach vorn geneigt, während sie ganz in ihrer Lektüre aufging und dich dir selbst überließ, ohne das Bedürfnis zu haben, mit dir zu reden.
    Â»In der Schule haben wir heute über die Jugendmisere gesprochen.« Abrupt hatte Selvaggia sich an dich gewandt und dich regelrecht überrumpelt. »Findest du auch, dass mit unserer Generation etwas nicht stimmt? Gegen wen oder was wird heute rebelliert?«
    Â»Gegen die Langeweile«, gabst du wie aus der Pistole ge schossen zurück.
    Selvaggia schwieg, was du zum Anlass nahmst weiterzureden.
    Â»Wenn man mal drüber nachdenkt, sind bestimmte Verhaltensweisen eigentlich durch nichts zu rechtfertigen – außer durch Langeweile. Unsere Generation hat alles. Wir Jugendlichen haben nur eines im Kopf, nämlich: ›Ich will‹. Irgendein Erwachsener findet sich immer, der auf unsere Wünsche eingeht. Wir haben alles und wissen gar nicht mehr, was wir uns wünschen sollen. Auch auf emotionaler Ebene: Man wird halt los, gewöhnt sich an, aggressiv, ja hysterisch bei der kleinsten Kleinigkeit zu werden, wenn nicht alles so läuft, wie man sich das vorgestellt hat.«
    Â»Und wir?«, fragte Selvaggia zögernd.
    Â»Wie meinst du das?«
    Â»Na wir beide«, beharrte Selvaggia. »Leute wie wir. Kinder aus gutem Hause, gut aussehende, gut gekleidete und gut erzogene Kinder, die es gewohnt sind, nach außen hin ihre schönste Maske zu tragen.«
    Â»Siehst du hier irgendjemanden, der eine Maske trägt?«
    Â»Du weißt schon, was ich meine: Auch wir haben Masken auf. Masken aus guten Manieren, um Bestätigung von außen zu bekommen. Schon von klein auf lernen wir, anderen etwas vorzumachen, um so die Zustimmung und Bewunderung von Leuten zu bekommen, die nicht über unsere Mittel und Möglichkeiten verfügen.«
    Â»Aber das ist doch reine Propaganda«, sagtest du lachend.
    Â»Ich weiß nicht, was daran lustig sein soll, Bruderherz. Wieso begreifst du das nicht? Siehst du denn nicht, dass das überhaupt erst der Grund für unsere Misere ist und uns zwingt, uns privat so zu zeigen, wie wir wirklich sind: nackt, verletzlich und unglücklich?«
    Weil sie die Frage mit einer solchen Verve vorbrachte, schien sie damit auf ein Ziel zu verweisen, dass du unbedingt erreichen solltest. Als wollte Selvaggia dir etwas klarmachen, das sie längst durchschaut hatte. »Ich weiß nicht recht«, sagtest du. »Ehrlich gesagt kann ich mich in dieser Beschreibung nicht wiedererkennen. Und dich auch nicht. Vielleicht orientieren sich die Leute einfach an den falschen Lebensmodellen«, fuhrst du fort. »Vielleicht haben sie auch die falschen Eltern.«
    Selvaggia nickte. »Ja«, sagte sie. Und auf einmal verbreitete sie, die noch bis vor Kurzem gestrahlt hatte, nichts als

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