Die Alchemie der Naehe
nämlich wirklich«, setztest du hastig nach.
»Ich dich auch.«
»Und warum machen wir uns dann so einen Kopf, Liebling?«
»Keine Ahnung, ich bin in letzter Zeit einfach nur durcheinander. Vielleicht habe ich Angst. Denn es stimmt schon: Je länger wir zusammen sind, desto mehr isolieren wir uns von den anderen, wobei mir diese Isolation nichts ausmacht. Ganz einfach weil ich jetzt, nachdem ich dich kenne, nicht mehr ohne dich leben könnte.« Plötzlich erhellten sich ihre Züge, und sie wirkte überglücklich. »Ich bin gerade erst dabei, die Bedeutung unserer Liebe zu begreifen. Sie ist deutlich stärker als wir, wir müssen ihr gehorchen, und sie wird uns immer wieder zueinanderführen.«
Als du diese Worte hörtest, glaubtest du genau zu wissen, was sie fühlte. Das musste etwas mit der glücklichen Aura zu tun haben, die dich seit eurer ersten Begegnung begleitete. Ach, mein guter alter Giovanni! Was hättest du auch sonst tun sollen â jetzt wo du wusstest, dass sie deine Gefühle teilte? Da blieb dir nichts anderes übrig, als dich sehnsüchtig vorzubeugen und sie so zu küssen, als wolltest du dich nie mehr von ihren Lippen lösen.
50
Eure Liebe war wie eine unzerreiÃbare Fessel, die euch zusam menhielt. Auch wenn man dieses Instrument normalerweise mit Gefangenschaft assoziiert, war es für euch ein Symbol innigster und ausschlieÃlich positiver Gefühle.
Es war schon eine Art Wahn, aber ein süÃer.
Du dachtest jede Sekunde an deine Schwester und verbrachtest die ersten Schulwochen ausschlieÃlich damit, zu seufzen, Herzklopfen zu haben und Liebe zu verströmen. Wart ihr in der Schule, rieft ihr euch auf dem Handy an und nutztet jede Gelegenheit, das Klassenzimmer zu verlassen. Es war, als bekämst du sofort Entzugserscheinungen, wenn du Selvaggias Stimme hörtest: Dann hattest du das fast körperliche Bedürfnis, sie gleich wieder zu hören. Um ihr was zu sagen? Ach gar nichts, du weiÃt es! Sie fehlte dir einfach.Manchmal hättest du weinen können vor lauter Verzweiflung, weil Paranoia neben dir saà und nicht sie.
Während des Unterrichts träumtest du vor dich hin, warst mit den Gedanken ständig woanders. Du hattest nur sie im Kopf, denn sie war dein Ein und Alles.
Manchmal klapptest du das Portemonnaie auf und sahst dir das in Rom aufgenommene Foto an. Darauf war zu sehen, wie ihr euch küsstet. Ehrfürchtig bestauntest du diese Porträts, bis du dich daran sattgesehen hattest. Dann drücktest du die Lippen herzförmig auf ihr Gesicht, als wäre sie eine Heiligenikone, stecktest das Bild wieder in das Innenfach deines Geldbeutels und verbargst es vor den vulgären Blicken der anderen.
Bis ihr wieder zu Hause wart. Häufig allein, da eure Eltern nur selten zum Mittagessen kamen. Zuerst machtet ihr euch frisch und duschtet, dann liebtet ihr euch und gingt anschlieÃend in die Küche, um eine Kleinigkeit zu essen. Nur das Allernötigste zum Aufrechterhalten eurer Vitalfunktionen, denn wen man sich liebt, braucht man weder Essen noch Trinken noch sonst irgendwas. Stattdessen hattet ihr nur das Bedürfnis, die Zeit, die ihr getrennt gewesen wart, nachzuholen â diese grausamen Stunden.
Gegen vier Uhr nachmittags kehrtet ihr wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und überlegtet, wie ihr den Rest des Tages verbringen wolltet. Normalerweise trainiertest du dienstags und donnerstags im Schwimmbad, nachdem du Selvaggia zur rhythmischen Gymnastik gefahren hattest. Ihr bemühtet euch, immer an denselben Nachmittagen zu trainieren, damit ihr den Rest der Woche zusammen sein konntet. Seltsamerweise hast du ihr nie beim Training zugesehen, aber gespannt dem Aufsatz entgegengefiebert, den sie Ende September schreiben musste. Ãber die Wochenenden konntet ihr jedoch frei verfügen: Ihr gingt zusammen shoppen, in eines der Altstadtcafés oder ins Kino und danach spazieren.
Es war herrlich, auf einer Bank zu sitzen, herumzualbern und über Bücher zu reden.
Es war herrlich, sich in den Laubengängen zu küssen.
WeiÃt du noch? Eines Abends nach dem Essen, an einem ganz normalen Donnerstag, ging Selvaggia unter dem Vorwand, lernen zu müssen, auf ihr Zimmer. Du bliebst im Wohnzimmer und sahst fern, bis eure Eltern sich zurückzogen. Als du hörtest, wie deren Schlafzimmertür zufiel, eiltest du ebenfalls nach oben in den dunklen Flur,
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