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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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klopftest bei Selvaggia und wartetest. Ein Geräusch und kurz darauf machte sie dir auf wie einem unerwarteten, aber willkommenen Besuch.
    Â»Ciao«, sagte sie lächelnd und bat dich herein. Dann setzte sie sich wieder an den Schreibtisch und lernte weiter. Es war zwar schon halb eins, trotzdem hattest du nicht die geringste Lust zu schlafen. Deshalb wühltest du in ihren Sachen herum, zum Beispiel in ihren Kommodenschubladen. Du last das kurze Kapitel eines Buches und merktest, dass du nichts damit anfangen konntest.
    Du räuspertest dich, wie um zu sagen: He, ich bin auch noch da! Daraufhin brach sie in Gelächter aus, weil sie dich schon seit geraumer Zeit beobachtet hatte. »Musst du wirklich so viel lernen?«, fragtest du, denn eigentlich wärst du am liebsten über sie hergefallen.
    Â»Ja, Sozialwesen. Aber ich habe keine große Lust darauf und möchte lieber ein bisschen mit dir zusammen sein.« In ihrem Wahnsinnsspitzennachthemd aus raschelnder Seide kam sie zu dir ins Bett. Wenn es ein Wort gab, mit dem man Selvaggia beschreiben konnte, dann war es Raffinesse .
    Â»Da sage ich natürlich nicht Nein«, bemerktest du, bevor ihr euch bestimmt schon zum sechshundertmillionsten Mal seit Gefechtsbeginn in die Arme fielt.
    Am nächsten Morgen fandst du einen Brief auf deiner Kommode vor. »Lies mich in der Schule« stand auf dem Umschlag. Du stelltest Selvaggia absichtlich keinerlei Fragen. Als ihr euch gleich nach dem Aufstehen im Flur traft, grinstest du sie nur verschwörerisch an. Da eure Eltern schon unten beim Frühstück saßen, gabt ihr euch nur einen kurzen Kuss, von dem du den ganzen Vormittag zehren würdest. Noch immer sahst du dieses unglaubliche Nachthemd vor dir, das am Abend zuvor so verführerisch von ihrem Körper geglitten war, dass du beinahe … Nein, ermahntest du dich und risst dich zusammen. »Am besten, ich geh dann mal los.«
    In der Schule hattest du null Bock auf zwei Stunden Chemie und Englisch. Es war noch keine zehn Uhr, und dein Lebenshunger vertrug sich so gar nicht mit dem starken Einbalsamie rungs- und Mumifizierungsgeruch im Klassenzimmer. Der gute Paranoia neben dir konnte die Augen kaum offen halten, und Nautilus, dessen Gesicht grün angelaufen war, sah aus wie ein lebender Leichnam. Manche Klassenkameraden, die ebenfalls todmüde waren, stöhnten und verdrehten die Augen, andere fuhren sich mit immer fettiger werdenden Händen verzweifelt durchs Haar, und wieder andere starrten krampfhaft in eine Autozeitschrift. Du dagegen schautest immer wieder geistesabwesend zum Chemielehrer hinüber, um ihm weiszumachen, dass du wenigstens ab und zu zuhörtest. Doch in Wahrheit sahst du lieber aus dem Fenster und sehntest dich wie jeder Schüler nach dem Leben, das da draußen tobte.
    Irgendwann suchtest du Trost in Selvaggias Brief. Die Gedanken, die sie dir mitteilte, waren ihr am Abend zuvor gekommen, nachdem ihr wild rumgemacht hattet. Anscheinend wurde eure Liebe immer vergeistigter: Noch nie hattest du einen Liebesbrief in Händen gehabt, der so intensive Gefühle beschrieb. Nachdem auch dich ein gewisser Ehrgeiz gepackt hatte, schriebst du ihr während des Englischunterrichts zurück und gestandst ihr deine vornehmsten Gefühle – wobei du natürlich so tatst, als würdest du dir Notizen zur Verlaufsform machen. Während du dich bemühtest, eine angemessene Anzahl poetischer Ergüsse abzusondern, die dir Selvaggias Abwesenheit eingab, stellte die Englischlehrerin eine von den nervigen Fragen, die jeder Schüler kennt. Mehrmals rief sie dich auf, und jedes Mal fühltest du dich bei dem Namen Giovanni nicht angesprochen. Bis dir wieder einfiel, dass du für die Normalsterblichen tatsächlich so hießt. Du hast dich zusammengerissen.
    Â»Are you good at football?«, hallte die Stimme der Lehrerin durch den sternenlosen Luftkreis des abweisend grauen Klassenzimmers. Warst du gut in Fußball? Nein, aber dir fielen die dämlichen Worte nicht ein, um das zu sagen, so vertieft warst du noch in dein eigenes Geschreibsel. Ehrlich gesagt, hattest du dich noch nie groß für Fremdsprachen interessiert, auch wenn du mühelos eine eins schreiben konntest, sobald du dich anstrengtest. Also räuspertest du dich und fragtest die Lehrerin, ob sie das bitte noch mal wiederholen könne. Daraufhin dämmerte ihr, dass nicht ein Wort von dem, was sie seit Betreten des

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