Die Alchemie der Naehe
dir zu Hause, aber du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen, okay?«
»Ja. Ich freue mich, deine Stimme zu hören«, sagtest du, wobei du instinktiv lächeltest.
»Du rauchst, stimmtâs?«, sagte sie fröhlich. »Warum rauchst du?«
»Woher weiÃt du, dass ich rauche?«
»Das hört man an der Stimme. Rauchen ist eigentlich nicht okay.«
»Und dass ich dir jede Sekunde sagen muss, wie sehr ich dich liebe â ist das auch nicht okay?«
Sie lachte geschmeichelt. In diesem Moment läutete es, und die Pause war zu Ende.
»Wir sehen uns später. Ich liebe dich. Ciao!« Sie schmatzte einen Kuss in den Hörer.
»Ciao, ich liebe dich auch. Vergiss das nicht!«
Im Treppenhaus wundertest du dich kein bisschen über die Blicke, die dir einige Freunde zuwarfen: Wetten, dein verändertes Verhalten war schon von der Hälfte der Klasse bemerkt worden?
»Deshalb warst du diesen Sommer wie vom Erdboden verschwunden«, sagte Nautilus.
»Du warst einfach zu beschäftigt. Wer hätte je gedacht, dass du dich nach deiner schrecklichen Beziehung mit Rosalinda Giudici noch mal verknallst!«
»Ja, Nautilus«, sagtest du nickend und hülltest dich in Schweigen. »Gut möglich. Aber warum auch nicht?«
»Du wirkst wie ein Träumer: noch blindfischiger als sonst.«
»Ach ja, der Blindfisch! Das ist der edelste Dosenfisch überhaupt. Du solltest ihn lieben, denn er ist einfach der beste.«
»Aber Nautilus liebt Blindfische! Warum sollten wir sonst zwanzigtausend Meilen unter dem Meer zurücklegen?«
»Logisch«, sagtest du lachend und drohtest ihm gespielt mit der Faust. »ScheiÃe, was bist du nur für ein tiefgründiges Tauchboot!«
Du wusstest, dass du sie von der Schule abholen würdest, und konntest es kaum erwarten, mit ihr zu sprechen und zu hören, wie es ihr ging. Im Bus war die Hölle los, auÃerdem hatte er Verspätung, doch nichts konnte deine Vorfreude dämpfen. Um ein Uhr vierzig sahst du nach deiner abenteuerlichen Busfahrt, dass sie schon am Schultor auf dich wartete. Sie unterhielt sich mit Klassenkameradinnen. Kaum hatte sie dich entdeckt, hörte sie auf, mit ihnen zu reden, und lächelte dir zu. Du hobst die Hand zur BegrüÃung und geselltest dich dazu.
»Hi«, sagtest du und unterdrücktest dein heftiges Bedürfnis, sie zu küssen. SchlieÃlich wart ihr in der Ãffentlichkeit, und obwohl dich niemand kannte, durftest du keinen Verdacht erregen. Eure Beziehung war nun mal strengstens verboten, und je weniger Leute davon wussten, desto besser.
Selvaggia erwiderte deinen GruÃ, und dann wurde es Zeit, sich vorzustellen. Innerhalb von zwei Sekunden lerntest du ihre Klassenkameradinnen Ludovica, Elisabetta und Martina kennen. Nicht dass dich das groà interessierte, da du ihre Namen sowieso gleich wieder vergessen würdest. Selvaggia stellte dich einfach nur als Johnny vor. Sie sagte weder, dass du ihr Zwillingsbruder noch dass du ihr Freund seist. Du warst Johnny und damit basta, den Rest konnten sich die Mädels selbst zusammenreimen: Manche würden eure äuÃere Ãhnlichkeit bemerken und euch vielleicht für Bruder und Schwester halten. Andere würden sehen, wie ihr euch umarmtet, und dich für ihren Freund halten. Das hatte deine Schwester wirklich schlau angestellt: Niemand würde sich aufregen oder mit den Fingern auf euch zeigen, nur weil ihr euch liebtet. Und niemand würde es wagen, Spekulationen über die wahre Natur eurer Beziehung anzustellen. Dass Johnny nicht mal dein richtiger Name war, war dabei völlig nebensächlich.
Anfangs hattest du diesen Spitznamen gehasst, aber irgendwann gefiel er dir. Du warst zwei Personen in einer: Giovanni und Johnny. Giovanni war der Vernünftigere, Vorsichtigere, GemäÃigte, mit anderen Worten der Langweiligere. Johnny dagegen passte hervorragend zu Selvaggia, und das war alles, was ihn interessierte. Deshalb fragtest du dich: Wer ist eigentlich Giovanni, genannt Giovi? Im Grunde war es dir ziemlich egal, wer du wirklich warst. Wahrscheinlich ein Weichei mit einer Vorliebe fürs Rückenschwimmen. Ein sympathischer Blindfisch, der spieÃige Untermieter deiner Psyche.
Wenn dich deine Mutter zu Hause mit deinem richtigen Namen ansprach, reagiertest du neuerdings gar nicht mehr, weil du dich nicht mehr mit diesem sportlichen Schüler identifizieren konntest.
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