Die Alchemie der Naehe
lange von dir getrennt wäre. Bei der Vorstellung, neue Leute kennenzulernen, brach Selvaggia auch nicht gerade in Begeisterungsstürme aus. Klar, für dich war es ebenfalls schmerzlich, eure lieb gewordenen Gewohnheiten aufgeben zu müssen. Gleichzeitig wusstest du, dass es nichts brachte, euch etwas vorzujammern. Bis zum ersten Läuten war es nur noch eine Stunde hin, und euch schien jede Minute, ja jede Sekunde dieses beängstigenden Countdowns unangenehm bewusst zu werden.
»Wie sehe ich aus?«, fragte sie, fuhr sich durchs Haar und drehte sich einmal um die eigene Achse.
»Fantastisch wie immer! Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen, alles wird gut gehen.«
»Ich habe ein bisschen Angst«, gestand sie nervös und schloss gedankenverloren die Schmuckschublade.
Du musstest schmunzeln. »Das brauchst du nicht. Kommst du mit runter? Das Frühstück ist fertig.« Mit diesen Worten gingst du zur Treppe, während eure Mutter erneut nach euch rief.
»Johnny?«
Ohne zu zögern, machtest du kehrt.
»Gibst du mir einen Kuss?«, fragte sie leicht verlegen. »Bevor wir losgehen?«
»Klar doch«, gabst du zurück, bevor du sie in die Arme nahmst. Ihr küsstet euch so leidenschaftlich, als wolltet ihr eure Sehnsucht stillen, um während eurer Trennung keine Entzugserscheinungen zu bekommen. Und obwohl eure Mutter ein letztes Mal nach euch rief, behieltst du sie noch kurz im Arm, als lieÃe sich die dahinrasende Zeit überlisten.
»Keine Sorge«, sagtest du. »Alles wird super laufen. Du wirst dich wohlfühlen und schnell neue Freundschaften schlieÃen. Alles wird gut. Und selbst wenn nicht â was spielt das schon für eine Rolle? Du musst bloà vormittags dahin!« Du versuchtest, sie zu beruhigen, und sie schniefte. Anscheinend war das ihre Antwort darauf.
Eure Mutter fuhr euch zur Schule. Ihr saÃt auf dem Rücksitz und saht auf eurer jeweiligen Seite aus dem Fenster, als du spürtest, wie Selvaggias Hand sich auf deine legte. Du drücktest sie, um ihr Mut zu machen, was sie auf Anhieb zu beruhigen schien.
Bald darauf hieltet ihr vor dem alten Gebäude, das von einer Schülerinnenschar abgeschirmt wurde. Sie bildeten Grüpp chen, redeten und lachten, zündeten sich Zigaretten an oder drückten welche aus und warteten, bis es läutete.
»Also, Selvaggia, viel Glück«, sagte eure Mutter energisch wie eh und je. Deine Schwester schwieg. Sie sah dich ein letztes Mal an, und du nicktest ihr lächelnd zu. Nach dieser Ermutigung winkte sie deiner Mutter zum Abschied, überquerte die StraÃe und schritt diesem Teil ihres neuen Lebens entgegen.
Die Gespräche deiner Freunde, an denen du noch vor wenigen Monaten regen Anteil genommen hattest, kamen dir auf einmal vor wie leeres Geschwätz. Früher hattest du dich für Motorräder, Mädchen, Partys, Discos, ja sogar für Politik interessiert. Wieso war das alles futsch? Jedes Wort, jeder Lebensbereich und jedes Thema, die nichts mit Selvaggia zu tun hatten, waren nicht mehr als bedeutungsloses Hintergrundrauschen, ein sinnentleertes Nichts. Was war das bloà für eine Liebe, fragtest du dich, während du vorgabst, den Einführungsansprachen diverser Lehrer zu lauschen. Als ob dich der Stoff auch nur ansatzweise interessiert hätte!
In Gedanken warst du bei Selvaggia, fragtest dich, was sie gerade machte und ob sie sich wohlfühlte in der neuen Klasse. Du stelltest dir vor, wie sie von ihr noch fremden Klassenkameradinnen umringt war, die sie ihrerseits nicht kannten. Die ihr neugierig Komplimente zu ihren tollen Haaren machten oder die Kette bewunderten, die du ihr geschenkt hattest. Mal ganz im Ernst, dachtest du im Stillen. Wozu sich Sorgen machen, wo doch keinerlei Gefahr drohte und es fast unmöglich war, sie nicht zu bewundern und zu mögen?
In der Pause standst du wieder auf dem Schulhof, auf dem sich die Abiturienten zum Rauchen trafen. Du stecktest dir eine Camel light an und dachtest, welch tolle Erfindung das Nikotin doch war. Als du dich gerade wieder einigermaÃen beruhigt hattest, klingelte das Handy in deiner hinteren Hosentasche. » Ciao, amore «, begrüÃte dich Selvaggia in neutralem Tonfall, was dich ein wenig beunruhigte. »Wie gehtâs?«
»Gut und dir?«
»Ganz gut, denke ich. Jedenfalls keine Katastrophen â ein ganz normaler Schultag. Alles Weitere erzähle ich
Weitere Kostenlose Bücher