Die Alchemie des Bösen: Roman (German Edition)
die Contessa. »Versuchen Sie, nicht hineinzufallen und zu ertrinken.«
Der Korb kam zuerst dran und dann Miss Temple, die zur vorderen Ruderbank kletterte. Die Contessa zog sich das Kleid über die Hüften hoch, setzte sich ans hintere Ende des Ruderboots, verstaute den Lederkoffer unter ihrem Sitz und tauchte mit einem kleinen Gehäuse aus Glas und Metall wieder auf. Sie zündete die Kerze darin an, steckte das Gehäuse in eine Halterung und griff dann hinter sich nach der Pinne.
»Da ist eine Stange, Celeste, unter Ihren Füßen. Wir sollten nicht aufs Ufer auffahren, doch falls wir es tun, stoßen Sie uns mit der Stange wieder ab. Ich steuere. Falls Sie vorhaben sollten, die Stange gegen mich zum Einsatz zu bringen, sollten Sie die Idee verwerfen, denn sie ist zu kurz. Sind Sie bereit?«
Miss Temple holte die Stange hervor, die tatsächlich nicht sehr lang war, und drehte sich nach vorn um. Mit einem Messer kappte die Contessa das Seil, das sie mit dem Anleger verband. Die Waffe war keine Überraschung, doch war ihr Anblick auch nicht gerade ermutigend. Die Strömung erfasste das Boot, und sie schossen in die Dunkelheit davon.
Den ersten Abschnitt ihrer Fahrt war Miss Temples Aufmerksamkeit ganz auf das halbmondförmige Licht vor ihrem Ruderboot gerichtet, und sie hielt nach Gefahren aller Art Ausschau. Große Bereiche des Putzes waren von der Decke abgefallen, an deren Stelle Stränge aus schwarzem Moos herabhingen. Das Ufer bestand aus glattem Felsen, bis auf das gelegentliche Auftauchen weiterer Anleger, die Miss Temple so genau, wie es das Licht erlaubte, in Augenschein nahm. Hin und wieder verkündete die Contessa den Namen des Ortes, an dem sie sich befanden, »die Zitadelle« oder »das Observatorium«; manchmal jedoch passierten sie einen Anleger kommentarlos, und Miss Temple war sich sicher, dass sie nicht wusste, wie er hieß. Bald trieben sie stumm dahin, und schließlich lenkte etwas Miss Temples Aufmerksamkeit ab.
Der Akt war der kirchlichen Lehre nach (die sie ablehnte) obszön und unnatürlich gewesen, allerdings auch nach Miss Temples Verständnis von Loyalität und Tugendhaftigkeit. Natürlich hatte sie diese Sorte Mädchen kennengelernt – jeder tat das –, doch in ihr selbst war dieser Drang nicht vorhanden gewesen oder zumindest unberücksichtigt geblieben. Das hatte sich dramatisch geändert, nachdem das blaue Buch in ihren Verstand gedrungen war. Wenn ein Gedächtnis die Vorlieben eines Mannes, was Frauen betrifft, enthielt, dann spürte Miss Temple diese Lust und diese Wertschätzung in ihrem eigenen Körper. Und viele dieser Erinnerungen waren pervers: Frauen mit Frauen, Männer mit Männern, und dazu noch in einer solchen Häufung, dass ihr Körper, wenn auch nicht ihre Auffassung von Moral, schließlich nur obszöne Spielarten lernte. Und so kam Miss Temple zu dem Schluss, auch wenn sie die Contessa oder ihre Zunge nicht billigte, dass es auf der Hand lag, dass eine Zunge so ziemlich wie die andere war. Die Tatsache, dass sie bei ihrem derzeitigen Wissen und Begehren Zungen, ob nun von Männern oder von Frauen, nicht völlig abschwören konnte, schien keine Rolle zu spielen.
Doch Loyalität war noch einmal etwas anderes, und hier steckten ihre Überlegungen. Die Contessa war ihre Feindin – daran war nicht zu rütteln. Wie ließ sich selbst unter äußerster Strapazierung des Begriffs ›Zweckmäßigkeit‹ eine derartige … Demütigung rechtfertigen? Oder war es gar keine Demütigung? Kein Kompromiss? Verrat? Es war einer – sie wusste es –, und trotzdem hatte sie es getan! Und täte es auch wieder, selbst wenn die Umstände ihres Begehrens andere wären! Miss Temple packte die Stange mit beiden Händen; sie hasste die Frau hinter sich, und sich selbst verabscheute sie noch viel mehr. In der Kutsche hatte ihr der Comte d’Orkancz die Kehle zugedrückt – sie hatte sich nicht wehren können … auf dem Anleger hatte die Contessa lediglich ihre Oberschenkel umfasst, um sie an sich zu ziehen.
Spielte es eine Rolle, dass es ihr Begehren war und nicht das der anderen? Miss Temple lachte spöttisch angesichts dieser positiven Auslegung – als wären die schwelgerischen Inhalte des Glasbuchs ihre. Ihr Begehren war längst erloschen – mit Bitterkeit erinnerte sie sich an die schmutzigen Worte von Mr. Groft, dem Aufseher ihres Vaters – wie Jauche in einem Fluss.
Und das war’s. Und weil sie nichts dagegen tun konnte, schob Miss Temples praktischer Verstand den Vorfall
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