Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
stand. Sie blickte dem Eiland mit verschränkten Armen entgegen.
Gillian hatte das Bild noch nie zuvor gesehen. »Nein«, sagte er.
»Ich ließ es vor beinahe siebzehn Jahren in Florenz anfertigen, von einem Schweizer namens Böcklin«, erklärte Lysander und fügte seinem eigenen Gemälde ein paar neue Striche hinzu. Der Ästewirrwarr auf dem Bild erinnerte Gillian an einen Oktopus. »Ich ließ den Auftrag über eine meiner Vertrauten erteilen, die Gräfin von Oriola, übrigens eine vorzügliche junge Kunstkennerin. Nun, damals war sie jung – und gerade erst verwitwet, wie ich ergänzen darf.«
Gillian fragte sich verwirrt, worauf Lysander hinauswollte. Dieser fuhr in seinen Erläuterungen fort. »Die Gräfin beschrieb Böcklin das Motiv entsprechend meinen Wünschen, und er fertigte daraufhin dieses wunderbare Gemälde an. Ein Meisterstück, ohne Zweifel. Ich ließ ihm meine Bitte ausrichten, es Die Toteninsel zu nennen. Der gute Mann hat seither noch einige weitere Fassungen davon hergestellt, aber keine kommt meinem Original gleich.«
»Ich bezweifle nicht, daß du die Kunst liebst, Lysander, aber –«
Gillian wurde sogleich unterbrochen. »Nicht so ungeduldig, mein Freund. Ich glaubte, Geduld sei eine Stärke deines Gewerbes. Das Bild, das du dort siehst, hat für mich einen hohen symbolischen Wert. Die Toteninse – der Name sagt eigentlich alles, nicht wahr?«
Lysander lachte leise und führte den Pinsel erneut in kühnem Schwung über die Leinwand. »Diese Insel, mein Lieber, ist mehr oder minder das Abbild eines tatsächlichen Ortes, hoch oben im Norden Preußens.« Er zögerte unmerklich. »Heißt es noch so? Preußen? Wie auch immer. Du wirst dich dorthin begeben, und du wirst dafür sorgen, daß der Friedhof, den Böcklin in meinem Auftrag daraus gemacht hat, nicht länger ein Traumgespinst bleibt.«
»Wer ist es diesmal?«
»Du kennst ihn nicht. Nestor Nepomuk Institoris. Ein alter Feind. Gelinde ausgedrückt.«
Gillian erinnerte sich nicht, den Namen je gehört zu haben. Ein alter Feind. Er straffte die Schultern. »Ich arbeite nicht mehr in diesem Gewerbe, Lysander. Schon seit Jahren nicht mehr.«
»Oh«, sagte Lysander, setzte aber nicht einmal den Pinsel ab, »das macht nichts. Du wirst deine alte Arbeit wiederaufnehmen. Für mich.«
Es hatte wenig Sinn, ihm zu widersprechen. Niemand widersprach Lysander. Trotzdem sagte Gillian: »Die halbe Unterwelt Wiens zahlt Abgaben an dich, und Gott weiß, wer noch. Ist unter all diesem Gesindel nicht einer, der solch eine Aufgabe übernehmen kann?«
»Sehr viele«, stimmte Lysander zu. »Hunderte vielleicht. Aber ich will, daß du es tust. Ich breche ungern mit liebgewonnenen Traditionen. Und ich zahle gut.«
»Du weißt, daß mich dein Geld nicht interessiert.«
»Kein Geld. Der Preis ist dein Seelenfrieden, Gillian. Ich werde dich danach nie wieder behelligen.«
Gillian verzog das Gesicht. »Das hast du schon einmal versprochen.«
»Und habe ich dich nicht sechs Jahre lang in Ruhe gelassen?«
Lysander seufzte schwer. »Diesmal hast du mein Wort: Dieser Auftrag ist der letzte.«
Gillian wußte, daß er keine Wahl hatte. »Erzähl mir die Einzelheiten«, verlangte er müde. »Und sei so gut und laß mich dein Gesicht dabei sehen.«
»Weder das eine noch das andere ist nötig.« Braun und grün malten die Pinsel, Strich um Strich, Zweig um Zweig. »Meine beiden Assistenten werden dir auf der Fahrt zum Bahnhof einen Brief aushändigen. Darin steht alles, was du wissen mußt.«
»Auf der Fahrt … zum Bahnhof?« Gillians Mund war auf einen Schlag trocken. Das konnte nicht sein Ernst sein!
»Es ist unumgänglich, daß du sofort abreist«, sagte Lysander unbeeindruckt. »Dein Zug verläßt Wien um acht Uhr zehn. Stein und Bein wissen, wann und wo du umsteigen mußt.« Dann fügte er hinzu: »Es wird eine lange Fahrt, nimm ein Buch mit.«
»Ich kann nicht so einfach aus Wien verschwinden«, widersetzte sich Gillian aufgebracht. »Es gibt Dinge zu tun, Abkommen einzuhalten. Ich will nicht, daß andere –«
Der Pinsel verharrte. »Von welchen anderen sprichst du?« Kein Zweifel, Lysander würde jeden von ihnen beseitigen lassen, einen nach dem anderen.
Gillian schluckte seinen Zorn hinunter. »Schon gut«, entgegnete er im Tonfall empörter Resignation. »Schon gut, Lysander, ich fahre.«
»Daran habe ich nicht gezweifelt.«
Gillian spürte den unbändigen Drang, Lysander die verfluchten Ölpinsel in die Augäpfel zu bohren. Eines Tages,
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