Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Christopher nie zuvor gesehen. Der Freiherr nahm die Muschel in beide Hände und reichte sie feierlich der Schloßherrin. Charlottes Augen waren groß und rund, als sie das Geschenk entgegennahm. Sie bedankte sich überschwenglich und ließ sogleich jedes der Kinder an der Öffnung der Muschel horchen. Fasziniert lauschte Christopher dem Meeresrauschen in ihrem Inneren.
»Es ist der Strand von Cape Cross, den ihr da hört«, erklärte der Freiherr. »Wir gingen dort Anfang Januar an Land, und – ihr werdet es nicht glauben – als wir im August zurückkehrten, war unsere Anlegestelle verschwunden. Keine Spur mehr davon. Der Schwemmsand hatte sie verschluckt.«
Friedrich nahm neben Charlotte auf einem samtroten Sofa Platz, sie in der einen, er in der anderen Ecke. Christopher nahm voller Erstaunen zur Kenntnis, wie seine Stiefmutter in der Nähe des Freiherrn erblühte. Die große Muschel hielt sie sorgsam im Schoß wie ein Neugeborenes.
»Friedrich war ein Jahr lang in Südwestafrika, in den Kolonien«, erklärte sie ihren Kindern, obgleich alle außer Christopher das sicherlich längst wußten.
»Zehn Monate, meine Liebe«, verbesserte er sie sanftmütig.
»Mir kam es viel länger vor.«
Der Freiherr verzog den Mund zu einem Grinsen. »Ich muß gestehen, mir dagegen war die Zeit viel zu kurz. Es ist wunderbar dort unten, wirklich wunderbar.«
Erstaunlicherweise war es Sylvette, nicht Charlotte, die bat: »Erzähl uns davon, Onkel Friedrich.«
Der Freiherr kreuzte Auras ablehnenden Blick. »Ich bin nicht sicher, ob das wirklich gewünscht wird. Ich kam nur her, um nach dem Rechten zu sehen. Ein andermal findet sich vielleicht ein besserer Zeitpunkt, um –«
»Nein«, unterbrach ihn nun Daniel, das erste Wort, das er an diesem Abend sprach. »Bitte, Herr von Vehse, erzählen Sie uns, wie es Ihnen erging. Es gibt so wenig Abwechslung hier im Schloß, daß Ihr Bericht uns allen willkommen wäre.«
Charlotte pflichtete ihm bei: »Ja, Friedrich, wir sind sehr gespannt.«
Christopher hatte den Eindruck, daß das Widerstreben des Freiherrn kein Zieren und kein Kokettieren war. Offenbar wollte er der Familie tatsächlich nicht lästig fallen, besonders Aura nicht, die ihn so offensichtlich ablehnte. Seine Art und sein Auftreten schienen beneidenswert selbstbewußt. Es wunderte Christopher keineswegs, daß Charlotte solch einen Narren an ihm gefressen hatte. Aber auch Friedrich schenkte der einsamen Schloßherrin mehr als nur einen warmherzigen Blick.
Doch ehe der Freiherr sich zu einem Bericht seiner Erlebnisse durchringen konnte, fragte er: »Wie geht es Nestor? Ich nehme an, er ist oben in seiner Hexenküche.« Er sagte das mit betonter Ironie, und dennoch wanderte ein Schatten über Charlottes Antlitz.
»Er hat sicher bereits gehört, daß du früher eingetroffen bist als erwartet«, sagte sie mit unverhohlener Bitterkeit. »Hier geschieht nichts, das ihm entgeht. Wenn er dich sehen will, wird er runterkommen.«
»Gewiß.« Friedrich räusperte sich, aber seine Verlegenheit wirkte nicht ganz echt.
Eines der Hausmädchen brachte heiße Schokolade für Sylvette und dampfenden Grog für alle anderen. Friedrich nahm eine Tasse, steckte die Nase in den Dampf und pries: »Ah, Rum aus der Karibik! Charlotte, deine Angestellten wissen noch genau, was ich schätze.«
Das Dienstmädchen nickte ihm zu, dankbar für das Lob, und verschwand. Friedrich lehnte sich zurück, während Sylvette und Daniel ihn mit Fragen bestürmten, und Charlotte ihm tiefsinnig zulächelte. Er begann, sich eine lange Pfeife zu stopfen. Christopher spürte, wie auch ihn die Begeisterung der anderen für des Freiherrn Erlebnisse ansteckte. Verblüfft registrierte er, daß Daniel mehr und mehr auftaute; obgleich er doch Aura merklich nahestand, teilte er keineswegs ihre offene Ablehnung gegen von Vehse. Mehr noch, Daniel schien den Freiherrn regelrecht anzuhimmeln. Aura dagegen blieb stumm und verfolgte das Geschehen mit wachsamen Blicken voller Argwohn.
Wie sich in den folgenden Stunden herausstellte, hatte von Vehse an einer Expedition durch die Große Namib teilgenommen, einen breiten Wüstenstreifen an der Küste Südwestafrikas. Das Gebiet dort unten war seit anderthalb Jahrzehnten in deutscher Hand, nachdem ein Bremer Kaufmann dort als erster eine größere Fläche Land erworben hatte. Friedrich hatte seine Finger wohl in allerlei Geschäften, vor allem dem Kupferhandel, und hatte sich erhofft, aus seiner Anwesenheit vor Ort Gewinn
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