Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
schwor er sich, eines Tages ist es soweit!
Stein und Bein nahmen ihn erneut in ihre Mitte, wandten sich zur Tür.
Als sie hinausgingen, hob Lysander noch einmal die Stimme.
»Richte Nestor etwas aus, bevor du ihn tötest.«
»Eine Botschaft für einen Toten? Welchen Sinn hat das?«
»Er wird es verstehen. Präge dir die Worte ganz genau ein.«
Der Hermaphrodit hob die Schultern und nickte ergeben. »Wie lauten sie?«
Ein Augenblick des Schweigens verstrich, Sekunden schmerzhafter Stille. Dann sprach Lysander leise: »Sag Nestor, der Seemann hat ein neues Rad.«
KAPITEL 2
So matt, wie das Dämmerlicht die bunten Salonfenster erhellte, verriet es Christopher, daß die Sonne beinahe untergegangen war. Im Schloß war es schwierig, ohne Uhr die genaue Tageszeit zu bestimmen. Die Fenster gestatteten keinen Blick ins Freie, und nicht eines, an dem Christopher sich versucht hatte, hatte sich öffnen lassen. Auch nicht das in seinem Zimmer.
Die Familie versammelte sich zum Abendessen. Bis auf seinen Stiefvater waren alle im Salon im Erdgeschoß des Ostflügels zusammengekommen. Charlotte nahm am Ende der langen Tafel Platz. Aura und Daniel setzten sich an die eine, Christopher und Sylvette an die andere Seite des Tisches. Der Stuhl des Oberhauptes blieb leer. Nestor Nepomuk Institoris zog es vor, in seinem Dachgarten zu speisen. In den anderthalb Tagen seit Christophers Ankunft im Schloß hatte er den Mann noch kein einziges Mal zu sehen bekommen. Sylvette hatte ihm erzählt, sie selbst sei ihrem Vater zum letzten Mal vor drei oder vier Wochen begegnet, zufällig, in einem Flur im Westtrakt. Er hatte ihr keine Beachtung geschenkt.
Hoch über der Tafel schwebte ein Kronleuchter wie eine monströse Spinne aus Eiskristallen. Von seinen Augen baumelten lange Ketten aus Glastropfen, die bei jedem Öffnen der Tür ein leises Klirren anstimmten. Die Laute erinnerten Christopher an das Flüstern im Schlafsaal des Waisenhauses.
An der Westseite des Salons, zwischen den beiden Bleiglasfenstern, stand eine prachtvolle Uhr, mindestens zweieinhalb Meter hoch. Ihr Zifferblatt leuchtete golden, die Zeiger waren mit kleinen Rubinen besetzt, Blutstropfen, um an das Verrinnen der Zeit zu erinnern. Der eigentliche Leib der Standuhr war aus dunklem, blankpoliertem Holz, pechschwarz und mit aufwendigen Schnitzereien verziert. Zwei Säulen, gedreht wie Korkenzieher, flankierten eine mannshohe Tür, hinter der Zahnräder und Spiralen surrten. Unsichtbar schlug ein Pendel hin und her, hin und her. Ein behagliches Ticken ertönte.
Sylvette stieß Christopher mit dem Ellbogen an, deutete auf die Uhr und begann ihm etwas darüber zu erzählen, doch Charlotte wies sie barsch zurecht, daß solche Geschichten nicht an den Tisch gehörten.
Aura und Daniel sprachen während des Essens kein Wort, stocherten stumm in Gänsebraten und Gemüse. Als Christopher seinem Stiefbruder am Morgen vorgestellt worden war – während des Privatunterrichts, den ein greiser Gelehrter aus dem Dorf abhielt –, hatte Daniel wenig Interesse für ihn gezeigt. Sie hatten sich die Hände geschüttelt und einige höfliche Worte gewechselt, doch von Anfang an schien klar zu sein, daß es zwischen ihnen keine Zuneigung geben würde. Das betrübte Christopher ein wenig; er hatte sich im zweiten Adoptivkind der Institoris’ einen Verbündeten erhofft. Dabei war ganz offensichtlich, daß Daniel sich für etwas Besonderes hielt, eine Stellung, die er mit niemandem zu teilen gedachte – nur so konnte seine stille Arroganz zu deuten sein. Gut, hatte Christopher verbittert gedacht, ich kenne Kerle wie dich, und ich weiß, wie ich mit dir umgehen muß. Aber es war nicht so sehr Daniels Ablehnung, die ihn schmerzte. Viel mehr hätte ihm an einem warmen Blick Auras, einem freundlichen Wort von ihren Lippen gelegen. Sie hatte ihr schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, er reichte bis weit hinab auf ihren Rücken. Christopher warf ihr beim Essen verstohlene Blicke zu, von denen nicht einer erwidert wurde. Sie saß nur da und tat, als existiere er nicht, das hübsche Gesicht verhangen von düsteren Gedanken.
Er hatte mittlerweile gehört, daß Aura in drei Tagen in ein Internat abreisen würde, irgendwo in der Schweiz. Gab sie vielleicht ihm die Schuld daran? Glaubte sie, er wolle ihren Platz in der Familie einnehmen?
Die kleine Sylvette war die einzige der Geschwister, die regen Anteil an seiner Anwesenheit nahm. Den ganzen Tag über plauderte sie ununterbrochen und
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