Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
hatte ihr Mißtrauen, das sie ihm bei ihrer ersten Begegnung entgegengebracht hatte, längst abgelegt. Sie erzählte freimütig von ihrer Schwester, ein wenig auch von Daniel, und gelegentlich sogar von ihrem Vater, obgleich sie über ihn nicht viel zu wissen schien. Er stieg seit Jahren kaum mehr vom Speicher herab, hatte sich nach dort oben zurückgezogen wie ein Einsiedler. Diener brachten ihm Essen und Getränke hinauf, selbst zum Schlafen blieb er im Dachgarten. Christopher hatte versucht, von außen hinaufzublicken, doch alles, was er hatte erkennen können, waren Sonnenstrahlen, die sich auf den gläsernen Dachschrägen des Mitteltrakts brachen. Nestor mußte dort oben eine Art Gewächshaus angelegt haben.
Nachdem das Dessert gereicht worden war – eine Weincreme, die Christopher nicht schmeckte, die er ungeachtet dessen aber aus Höflichkeit aufaß –, zog sich die Familie in eines von Charlottes Damenzimmern zurück. Aura wagte leisen Widerspruch, wurde aber von ihrer Mutter zurechtgewiesen. Sie habe sich jetzt lange genug wie ein kleines Kind aufgeführt, und es sei an der Zeit, zu einer gesitteten Art von Familienleben zurückzufinden. Im Gegensatz zu seiner Stiefschwester setzte Daniel sich schweigend dazu, starrte in die Flammen des Kaminfeuers und rieb sich gelegentlich die Handgelenke. Christopher fiel zum ersten Mal auf, daß der blonde Junge unter seinen Manschetten enganliegende Verbände trug.
Charlotte gab sich alle Mühe, ihre vier Kinder in ein Gespräch zu verwickeln, doch das Vorhaben scheiterte, als ein Diener sie mit einer unerwarteten Meldung überraschte.
»Freiherr von Vehse ist soeben eingetroffen, Madame.« Charlotte ließ sich von der gesamten Dienerschaft Madame nennen, das war Christopher schon bei seiner Vorstellung aufgefallen. Es waren Kleinigkeiten wie diese, auf die sie besonderen Wert legte.
Charlottes Gesicht hellte sich schlagartig auf, zeigte sogar unverhohlene Freude.
»Friedrich, du liebe Güte! Er ist schon hier?«
Im selben Moment wurde der Diener beiseite gedrängt. Ein hochgewachsener Mann stürmte ins Zimmer.
Charlotte sprang auf und fiel ihm mit einem ganz und gar undamenhaften Jubelruf um den Hals. Der Mann erwiderte ihre Umarmung herzlich, während sich der Diener zurückzog.
Christopher entging nicht, daß sich Auras Gesicht beim Eintreten des Fremden verfinstert hatte. Auch machte sie keinerlei Anstalten, ihn zu begrüßen. Daniel dagegen stand auf und schüttelte dem Mann die Hand, Sylvette umarmte ihn sogar. Auch Christopher erhob sich und trat dem Freiherrn zögernd entgegen.
»Christopher«, sprudelte Charlotte fröhlich heraus, ohne die Augen dabei von dem Besucher zu nehmen, »dies ist ein guter Freund der Familie. Der beste, darf ich wohl sagen. Friedrich Freiherr von Vehse.«
Christopher reichte ihm die Hand. Von Vehse ergriff sie und ließ seinen kräftigen Händedruck spüren.
»Du also bist das neue Familienmitglied«, sagte er freundlich.
»Charlotte hat mir einen langen Brief über dich geschrieben. Damals war noch nicht sicher, ob du wirklich hierherkommen könntest. Es freut mich zu sehen, daß offenbar alles zum besten verlaufen ist.«
Das erste, was Christopher an von Vehse auffiel, war die ungewöhnliche Bräune seiner Haut. Ungewöhnlich vor allem in einem Landstrich wie diesem, zudem Ende Oktober. Der Freiherr hatte hellblondes Haar und ein offenes, ehrliches Gesicht. Er war unrasiert, was seiner stattlichen Erscheinung keinen Abbruch tat. An ihm wirkten Bartstoppeln eher verwegen denn ungepflegt. Christopher schätzte ihn auf Mitte Vierzig, etwa in Charlottes Alter. Er trug ein ledernes Bündel bei sich, das er jetzt auf einem der Sessel ablegte.
Aura hielt es nach wie vor für unnötig, den Besucher von sich aus zu begrüßen. Von Vehse bemerkte es mit gelinder Heiterkeit, trat vor sie hin und sagte mit verschmitztem Lächeln: »Es ist ein Privileg, verfolgen zu dürfen, was für eine wunderschöne junge Dame aus dir geworden ist. Du wirst mit jedem Jahr hübscher.«
Ein Hauch von Rot färbte ihre Wangen, sie reichte dem Freiherrn widerstrebend die Hand und schien innerlich zu brodeln, als er einen galanten Kuß auf ihren Handrücken hauchte. Noch immer sagte sie kein Wort.
Friedrich lachte plötzlich – eine Spur zu grob vielleicht – , nahm das Bündel zur Hand und öffnete es. Daraus zog er eine kopfgroße Muschel hervor, schneeweiß wie aus Marmor und von silbrig schimmernden Adern durchzogen. Etwas so Schönes hatte
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