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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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vorsichtig die Tür nach innen. Muffige, abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Es roch nach Bettwäsche, die viel zu lange nicht gewechselt worden war.
    »Mach schon«, keifte die Hexe, »komm endlich rein.« Gian atmete noch einmal tief durch, dann betrat er das Zimmer. Er war noch nie zuvor hier drinnen gewesen. Seine Großmutter stand in der Mitte des Raumes, ein Alptraum aus schwarzem Stoff und weißgrauer Haut. Sie hatte sich Tess’ langes Haar um die rechte Hand gewickelt, die Linke preßte sie über den Mund des Mädchens. Ihre Finger sahen aus wie die Krallen des ausgestopften Seeadlers im Jagdzimmer. Ihr Gesicht, lang und hager unter dem schwarzen Hut, den sie nie abzunehmen schien, wirkte verkniffen und durch und durch furchteinflößend. Gian hatte jetzt keine Zweifel mehr: Sie war die böse Hexe, die mit dem Sturm das Schloß heimsuchte.
    »Mach die Tür zu«, verlangte sie barsch.
    Gian gehorchte, ohne den Blick von Tess zu nehmen.
    Ihre Augen flehten über die knochigen Klauen ihrer Peinigerin hinweg, aufgerissen und verängstigt. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Sie versuchte nicht, sich zu befreien, sondern hielt vollkommen still.
    »Bitte«, sagte Gian mit belegter Stimme, »laß sie los.« »Ich sollte sie im Meer ersäufen.«
    »Warum … warum sagst du so was?«
    »Sie ist ein Bastardkind«, sagte die Hexe so leise, daß es Gian schwerfiel, die Worte zu verstehen. Dadurch klangen sie noch bedrohlicher.
    »Tu ihr bitte nicht weh, Großmutter.« Die Anrede kostete ihn Überwindung, aber er hoffte, sie würde ihr gefallen.
    »Siehst du die Schnur dort vorne?« fragte die Hexe und deutete auf eine schimmernde Zierkordel, die neben dem Fenster von der Decke baumelte. Die Dienstbotenglocke.
    »Geh hin und zieh daran!«
    Gian lief hinüber und tat, was die Hexe ihm aufgetragen hatte. Irgendwo in der Tiefe des Schlosses erklang jetzt ein Läuten.
    Noch einmal bat er flehentlich: »Laß Tess bitte los,
    Großmutter, sie hat dir doch nichts getan.«
    »Sie ist Lysanders Tochter. Sein Bastardkind.« Ihr Blick verklärte sich einen Moment lang, als sie sich an längst Vergangenes erinnerte. Dann kehrte das Funkeln des Wahnsinns zurück.
    Tess versuchte plötzlich, Widerstand gegen die Umklammerung zu leisten, doch die Hexe riß nur noch kräftiger an den Haaren des Mädchens. Wieder schossen Tränen aus Tess’ blauen Augen, und sie erstarrte erneut in Reglosigkeit.
    Ein Klopfen drang von der Tür herüber, und herein kam Jakob, der älteste Diener. Als er erkannte, was vorgefallen war, schien er schlagartig um Jahre zu altern. Sein Blick verriet Entsetzen, aber er wagte nicht einzuschreiten. »Diese Kinder verdienen Strafe«, sagte die Hexe eisig. Jakob konnte den Blick nur mühsam von Tess’ gequälten Augen nehmen. »Madame, glauben Sie nicht, daß –«
    »Nein!« unterbrach ihn die Hexe scharf. »Wir sperren sie in den Kaminkeller.«
    Jakob schluckte. »Beide?« fragte er unbeholfen. Die Hexe starrte ihn böse an, dann nickte sie. Sie setzte sich in Bewegung und zerrte das Mädchen mit sich zur Tür. In ihren schwarzen Gewändern schien es, als schwebe sie über den Boden, ohne ihn zu berühren.
    Gian sah fassungslos zu, wie die beiden Richtung Korridor verschwanden. Auch Jakob wandte nur mit Mühe den Blick ab und sah schließlich Gian an. »Sie haben es gehört, junger Herr.« Er deutete totenblaß zur Tür. »Wenn Sie bitte mitkommen würden …«
    Gian setzte sich in Bewegung wie ein Schlafwandler. Er wußte, daß dies seine letzte Chance war, zu entkommen, aber ihm fehlte die Kraft, sich gegen die Anweisung der beiden Erwachsenen zu stellen. Er ließ zu, daß Jakob ihn bei der Hand nahm. Die Finger des Dieners bebten.
    Niemand begegnete ihnen, während sie der Hexe und Tess den Gang hinab folgten.
    Erst in der Eingangshalle wurde eines der Hausmädchen auf sie aufmerksam. Es kam gerade die Freitreppe herunter und ließ vor Schreck einen Stapel mit Bettwäsche fallen. Gian warf der jungen Frau einen flehenden Blick zu, doch als Jakob ihr mit einem Kopfschütteln bedeutete,
    sich ja nicht einzumischen, sammelte sie hastig die Wäsche auf und eilte davon.
    Vor dem riesigen Kamin an der Stirnseite der Eingangshalle blieben sie stehen. Die kalte Feuerstelle klaffte wie ein schreiendes Maul vor ihnen auf.
    »Öffnen«, befahl die Hexe.
    Jakob ließ Gians Hand los, ergriff einen Schnürhaken und stocherte damit im Abzugsschaft des Kamins. Nach einer Weile stieß die Eisenstange auf Widerstand und

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