Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
fast dreihundert Jahre her.«
»Das weiß ich!« fuhr sie ihn an, aber ihr Zorn war nicht wirklich gegen Christopher gerichtet. Vielmehr war sie wütend auf ihre eigene Unfähigkeit, die Wahrheit zu akzeptieren.
Christopher blieb äußerlich gelassen, doch das Schwanken in seiner Stimme verriet, wie verunsichert er war. »Gehen wir einmal davon aus, Nestor und Lysander hätten dem Templerorden schon angehört, als Rüstungen noch nicht aus der Mode waren – zu einer Zeit, als der Orden noch nicht verboten und seine Mitglieder nicht geächtet waren.«
Aura starrte ihn an und stieß einen bitteren Laut aus. »Du willst ernsthaft behaupten, sie wären beinahe siebenhundert Jahre alt?«
Er lachte freudlos auf. »Wer weiß, Aura, vielleicht werden wir uns irgendwann einmal an diese Reise erinnern und sagen: ›Liebe Güte ist das schon siebenhundert Jahre her?‹«
»Das ist nicht besonders witzig.«
» Du hast das Kraut vom Grab deines Vaters freiwillig geraucht – ich nicht.«
»Erzähl mir jetzt nicht, daß es dir leid tut.« Ihre Augen funkelten vor Wut. »Hör zu, Christopher, ich glaube, ich will darüber nicht sprechen. Ich will nicht mal daran denken.«
»Du wirst eine Menge Zeit haben, den Gedanken daran vor dir herzuschieben. Vielleicht fünfhundert Jahre, vielleicht tausend oder –«
»Hör auf, bitte!« Mit einemmal klang sie nur noch erschöpft und müde. »Ich brauche Zeit. Ich will nicht versuchen, mich mit etwas so« – sie zögerte – »Absurdem wie Unsterblichkeit abzufinden, ohne daß ich weiß, ob es real ist.«
»Reden wir über deinen Vater und Lysander. Wenn das Kraut wirklich das ist, was wir vermuten, warum wächst es dann auf Nestors Grab?«
»Sag du es mir.«
»Weil er unsterblich war.«
Sie schenkte ihm einen Blick, als spräche sie mit einem kleinen Kind. »O ja, natürlich.«
»Hast du einen besseren Vorschlag?« Er beugte sich über die Reling und spie in die Gischt, die um den Rumpf des Schiffes toste.
»Ich weiß, wie verrückt das klingt. Wenn du einen Apfel eingräbst, wächst vielleicht an derselben Stelle ein Apfelbaum. Und wenn du –«
»– einen Unsterblichen eingräbst, soll daraus Unsterblichkeit entstehen?« Sie schüttelte den Kopf und spürte, daß sie nahe daran war, in hysterisches Gelächter auszubrechen. »Das klingt nicht nur verrückt, Christopher!«
Er aber ließ sich nicht aus seinem Gedankenfluß reißen. »Das Gilgamesch-Kraut beschützt uns vor dem Alter. Es schützt uns vor Krankheiten. Und es läßt uns sogar Unbehagen empfinden, wenn wir nur in die Nähe alter Menschen kommen. Trotzdem vermag es nicht, einen Menschen vor einem gewaltsamen Tod zu bewahren. Dein Vater wurde von Gillian ermordet. Ein Unsterblicher, der gestorben ist. Aus seiner verlorenen Unsterblichkeit erwächst eine neue – das ist das Geheimnis des Gilgamesch-Krauts. Deshalb hat niemand es je gesehen.«
Sie zog eine hämische Grimasse. »Vielleicht hat es keiner gesehen, weil es nicht existiert. Schon mal daran gedacht?«
»Ich bin auch von der Existenz Gottes überzeugt, obwohl ich ihn nie gesehen habe.«
»Religion ist kein vernünftiges Argument.«
»Nicht Religion, sondern Glaube. Das ist ein Unterschied.«
»Du meinst, wenn wir nur fest genug an die Existenz des Gilgamesch-Krauts glauben, gibt es das tatsächlich?«
»Ich glaube daran, weil es existiert. So wie ich an Gott nur deshalb glauben kann, weil ich weiß, daß es ihn gibt.«
Aura war klar, daß sie auf diese Weise noch Stunden aneinander vorbeireden konnten, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Zum größten Teil war das ihre eigene Schuld. Sie sträubte sich gegen eine Überzeugung, die sie in Wahrheit längst akzeptiert hatte. Und sie sah Christopher an, daß er das sehr genau wußte.
»Wenn Lysander und mein Vater die Unsterblichkeit schon vor sechshundert Jahren für sich gewannen«, sagte sie, »warum hatten sie dann überhaupt Streit? Warum ein Krieg um etwas, das beide längst besaßen?«
»Irgend etwas ist geschehen«, sagte Christopher. »Nestor und Lysander müssen ihre Unsterblichkeit aus irgendeinem Grund verloren haben. Während der vergangenen Jahrzehnte hat jeder versucht, sie auf seine Weise zurückzugewinnen. Und zumindest Lysander scheint es gelungen zu sein.«
»Das neue Rad des Sämanns.«
Christopher nickte. »Dein Vater scheiterte und wurde getötet.«
Der Wind wirbelte Auras Haar auf. Ungehalten zwang sie es mit beiden Händen zurück in den Nacken. »Dennoch bleibt zu vieles
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