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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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–«
    »– war gelogen.« Sie lächelte wie eine Erwachsene. Er sah sie verdutzt an. »Woher weißt du das?«
    »Manchmal weiß ich, was du denkst«, sagte sie, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und setzte ihren Weg fort. Gian war einen Augenblick lang sprachlos. Es gab Momente, da wußte auch er, was Tess als nächstes sagen oder tun würde, fast als wäre sie ein Teil von ihm. Im Gegensatz zu ihr hatte er sich jedoch noch keine Gedanken darüber gemacht. Seine Achtung vor dem Mädchen stieg beträchtlich.
    Mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem beobachtete er, wie Tess sich der Tür seiner Großmutter näherte. Sie verhielt sich dabei viel leiser als er.
    Auf dem Kamin im Grünen Salon stand eine weiße Porzellanfigur, eine schlanke Frau, die sich seltsam verrenkte. »Eine Ballettänzerin«, hatte seine Mutter ihm erklärt. Tess erinnerte ihn jetzt an diese Tänzerin aus Porzellan, so weiß und leichtfüßig, wie sie den Flur entlangschwebte.
    Aber ihm fiel auch noch etwas anderes ein: das Märchen von Hänsel und Gretel. Brüderchen und Schwesterchen,
    die sich im dunklen Wald verirrten. Und er dachte: Wenn ich Hänsel bin, dann ist Tess die Gretel. Und die Hexe lauert hungrig hinter der Tür ihres Knusperhäuschens. Diese Tür lag jetzt nur noch vier Schritte von Tess entfernt. Gian mußte den Drang niederkämpfen, einfach vorzustürmen und Tess an der Hand zurückzuziehen. Was sie hier taten, war gefährlich, daran hatte er jetzt keinen Zweifel mehr. Er wünschte sich aus tiefstem Herzen, seine Mutter wäre daheim. Aber das war sie nicht. Sie waren allein. Gian, Tess und die Hexe.
    Er sah wie das Mädchen die Hand nach der Klinke ausstreckte. Immer näher und näher an die Tür herantrat.
    Tief durchatmete – laut genug, daß er es bis zu seinem Versteck hinter der Ecke hören konnte.
    Ob Tess die Klinke schon berührte, konnte er von hier aus nicht sehen. Ihr Rücken und ihre hellblonden Locken verdeckten die Sicht.
    Da ertönte ein Knirschen. Ein pechschwarzer Arm zuckte wie eine Riesenschlange hinaus auf den Flur.
    Leichenblasse Finger krallten sich in goldenes Haar. Ein schriller Aufschrei, dann das Schlagen der Tür.
    Tess war verschwunden.
    Alles war so schnell gegangen, so rasend schnell, daß Gian die Erkenntnis erst ein, zwei Herzschläge später überkam. Die Hexe hatte Tess durch die Tür gezogen.
    Hatte sie an den Haaren in ihr Zimmer gezerrt!
    Einen Moment lang drehten sich der Flur und die Lichter wie ein Strudel vor Gians Augen. Ein Strudel, der ihn hinabzureißen drohte zum Ende des Korridors. Seine Angst war so groß, daß er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Die Tür war nicht verschlossen gewesen.
    Jemand hatte sie geöffnet, gegen die ausdrückliche Anweisung seiner Mutter. Die Hexe war frei – und hatte Tess in ihrer Gewalt!
    Sekundenlang dachte er daran, Hilfe zu holen. An wen aber sollte er sich wenden? Jemand von der Dienerschaft mußte die Tür aufgeschlossen haben, und Gian wußte nicht, wer. Außerdem würde keiner es wagen, sich offen gegen seine Großmutter zu stellen. Genaugenommen war sie während der Abwesenheit seiner Mutter die Herrin im Haus, ganz egal, wie verrückt sie war.
    Gian kauerte sich am Boden zusammen und weinte.
    Aber die Tränen versiegten schnell. Er nahm all seinen Mut zusammen und beschloß, sich wie ein Erwachsener zu verhalten – auch wenn er sich im Augenblick keineswegs so fühlte.
    Erst zögernd, dann aber immer entschlossener, ging er den Gang hinunter auf die Tür des unheimlichen Zimmers zu. Draußen donnerte es wieder, und die Lampen an den Wänden begannen zu flackern. Wenn jetzt das Licht verlöschte, würde er auf der Stelle tot umfallen!
    Vor der Tür blieb er stehen. Irgendwo dahinter,
    hoffentlich weit entfernt, erklang leises Wispern. Eben hatte er es noch für den Wind gehalten, jetzt aber wurde ihm schlagartig klar, daß es tatsächlich die Stimme seiner Großmutter war. Die Hexe redete flüsternd auf ihr Opfer ein. Aber warum gab Tess keine Antwort? Er mußte ihr helfen!
    Tapfer hob Gian die Faust und klopfte an die Tür. Erst einmal, dann, nach einer kurzen Pause, mehrmals hintereinander. Nicht laut, aber doch so, daß die Hexe es hören würde.
    »Komm rein!« ertönte eine Stimme aus dem Inneren. Er erkannte sie sofort wieder. Ihm war, als läge die Szene im Eßzimmer nur Minuten zurück. Alles war wieder da: seine Furcht, sein Zittern, das Versteck unter dem Tisch. Er zog die kalte Klinke herunter und drückte

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