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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Augen. »Ist das wahr?«
    »Wenn ich’s doch sage.« Tatsächlich war es ein ziemlich frecher Schwindel, aber Gian fand, dadurch würde die ganze Sache ein wenig spannender werden.
    »Und er hat wirklich aufgesperrt?« fragte Tess noch einmal, und diesmal klang ihr Stimmchen ein wenig unsicher.
    »Und ob!«
    »Warum ist deine Großmutter dann nicht rausgekommen?«
    »Vielleicht ist sie’s ja«, erwiderte er. »Vielleicht steht sie gerade hinter dir!«
    Tess fiel auf den faden Trick nicht herein und schnitt ihm eine Grimasse.
    Hinter einer Ecke, ungefähr fünfzehn Meter von Charlottes Zimmertür entfernt, bezogen sie Stellung. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Nur das Unwetter tobte um die alten Mauern und ließ im Stockwerk über ihnen eine Tür auf und zu schlagen.
    »Also«, wies Gian das Mädchen an, »du wartest hier und guckst um die Ecke. Ich schleiche den Gang hinunter bis zur Tür, fasse die Klinke an und komme wieder zurück.
    Danach bist du dran.«
    Tess nickte, und Gian lief los. Die ersten sieben, acht Schritte legte er im Laufschritt zurück. Auf halber Strecke bremste er schlagartig und bemühte sich, von nun an keinen Laut mehr zu verursachen.
    Der Flur war mit schwarzem Schiefer gefliest, nur alle paar Meter lag ein Läufer. Zwischen den einzelnen Teppichen setzte Gian seine Schritte besonders behutsam.
    Dennoch gelang es ihm nicht gänzlich, alle Geräusche zu unterdrücken. Sein eigener Atem kam ihm ohrenbetäubend laut vor, aber er wußte sehr wohl, daß nur er selbst das so empfand.
    Der Korridor besaß keine Fenster und maß über zwanzig Meter. Den Kindern erschien das nahezu unendlich. Vier Lampen waren auf die gesamte Länge verteilt.
    Gian passierte zwei Türen; die eine führte zum Grünen Salon, die andere ins ehemalige Jagdzimmer. Der Abstand zur dritten Tür war merklich größer. Hinter ihr lag Charlottes Vorraum, daneben – ohne Tür zum Flur – das Schlafzimmer.
    Angespannt horchte er auf Geräusche aus den Gemächern seiner Großmutter. Einmal glaubte er, ein Flüstern zu hören. Dann aber sagte er sich, daß es nur der Wind war, den das Unwetter durch Ritzen und Löcher preßte.
    Sie ist eingeschlossen, sagte er sich immer wieder. Sie kann nicht raus. Nichts kann passieren, überhaupt nichts. Der unheimliche Auftritt seiner Großmutter stieg aus den Tiefen seiner Erinnerung auf wie ein toter Fisch aus einem bodenlosen See. Er gab sich große Mühe, ihr Bild zu verdrängen. Schon bereute er, überhaupt auf diese dumme Idee gekommen zu sein. Aber jetzt noch zu kneifen, vor Tess’ Augen, das kam überhaupt nicht in Frage!
    Noch fünf Schritte, dann würde er vor der Tür stehen.
    Eine der Lampen hing schräg gegenüber auf der anderen Seite des Korridors. Ihr Licht brach sich im Messing der Türklinke, blitzte ihm entgegen wie ein goldenes Auge. Plötzlich polterte etwas. Schritte auf der anderen Seite der Wand! Gian blieb wie angewurzelt stehen. Sein Herz schlug so heftig, daß er glaubte, es müsse jeden Augenblick zerspringen. Im Stockwerk über ihm schlug immer noch die Tür. Auf und zu. Auf, zu.
    Die Schritte verharrten auf Höhe der Tür. Vielleicht stand seine Großmutter jetzt reglos da, ein Ohr ans Holz gepreßt. Vielleicht hatte sie ihn gehört und lauschte.
    Lauerte. Wartete, bis er nahe genug heran war.
    Da, die Schritte entfernten sich wieder!
    Jetzt oder nie. Gian eilte vorwärts, streckte noch im Laufen die Hand aus, berührte mit den Fingerspitzen die eiskalte Klinke. Dann schlug er einen Haken und rannte so schnell er konnte zurück zu Tess.
    Das Mädchen war mächtig beeindruckt. Doch nicht einmal ihr bewundernder Blick konnte die Furcht vertreiben, die in Gians Magen rumorte.
    »Hör zu«, flüsterte er, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen, »du brauchst das nicht zu tun.
    Vielleicht ist es doch gefährlich.« Ein besseres Wort fiel ihm nicht ein, und irgendwie schien es ja auch angemessen.
    »Ich gehe trotzdem. Das war abgemacht.«
    »Und wenn sie mich gehört hat? Vielleicht wartet sie jetzt schon auf dich.«
    Tess schüttelte den Kopf so heftig, daß die blonden Locken wirbelten. »Du hast es getan, also tue ich es auch.«
    Sie war ganz schön mutig, das mußte er ihr lassen. Tess setzte sich in Bewegung. Das Weiß ihres Kleidchens hob sich deutlich vom Zwielicht des Korridors ab.
    »He, Tess!« zischte Gian hinter ihr her. »Noch was …« Sie drehte sich um »Hm?«
    »Das, was ich gesagt habe, daß der Diener die Tür aufgeschlossen hat

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