Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
Abfahrt um einige Stunden hinausgezögert. Noch am selben Abend legte die Wojwodina ab.
Die sechste Nacht seit ihrer Abreise vom Schloß brach an, aber es war die erste, in der Aura sich gestattete, bis zum Morgen durchzuschlafen.
Die Dämmerung hätte ebensogut ausbleiben können, niemand hätte es bemerkt. Schloß Institoris lag gefangen im Herzen eines nachtdunklen Sturms. Die Dienerschaft schwärmte seit den frühen Morgenstunden wie eine Kompanie Waldameisen durch Flure und Zimmer, schloß Fensterläden, wo welche vorhanden waren, verstopfte zugige Ritzen und zurrte Schnüre um die Klinken von Türen, deren rostige Schlösser längst nicht mehr zuschnappen wollten.
Dennoch brachten die Hausmädchen und Kammerdiener den Herzschlag des Sturms nicht zum Erliegen. Aus immer wieder anderen Teilen des Schlosses ertönte das leise Schlagen von Türen im Durchzug, von verzogenen Fensterrahmen und Kaminklappen. Es schien unmöglich, jede Stelle abzudichten, an der das Unwetter sich einen Weg ins Innere suchte. Gegen Mittag gaben die Bediensteten sich geschlagen und konzentrierten sich wieder auf ihre üblichen Aufgaben.
Gian empfand die Laute des Sturms als angenehm unheimlich, und er machte sich einen Spaß daraus, Tess in jene Teile des Gemäuers zu führen, von denen er wußte, daß sie der Kraft des Unwetters unterliegen mußten. Immer wieder wartete er darauf, daß hinter ihnen eine Tür schlug, ein Fenster vibrierte, ein Vorhang wehte. Tess reagierte anfangs wie erwartet, sie zuckte und kreischte bei jedem unverhofften Laut, bei jeder geisterhaften Bewegung. Anschließend aber lachten sie gemeinsam darüber. Sie wußten beide, es war nur ein Spiel, und es gab nichts, vor dem sie sich fürchten mußten.
Hätten sie gewagt, noch einmal zum Dachgarten hinaufzusteigen, so hätten sie bemerkt, daß Aura die Tür wohlweislich verriegelt hatte. Aber keiner der beiden verspürte das Verlangen, sich abermals den Erinnerungen seiner Ahnen auszusetzen. Die Visionen überkamen sie zwar hin und wieder, doch solange sie dem Dachgarten und der geheimnisvollen Atmosphäre, mit der er aufgeladen war, fernblieben, hielten sich die Bilder in Grenzen. Meist waren sie wie Erinnerungen an einen bösen Traum, irgendwann am Tag danach.
Gian und Tess waren unzertrennlich, und das nahm selbst dem Sturm seine Schrecken. Sie hockten auf dem roten Brokatsofa eines Gästezimmers im zweiten Stock, das sie zum Hauptquartier ihres Spiels erkoren hatten. Es lag weit genug abseits der üblichen Wege und war seit Jahrzehnten unbenutzt. Die Möbel waren mit grauen Laken verhängt, auf denen pelzige Staubschichten lagen. Gian fand, daß sie ein wenig aussahen wie Gespenster, doch als er Tess mit teuflischem Grinsen darauf hinwies, rümpfte sie nur die Nase und sagte, er solle nicht kindisch sein.
Über dem Kamin des Zimmers hing ein alter, halbblinder Spiegel. Von seinem kunstvollen Rahmen blätterte die Goldfarbe, und ein einzelner langer Riß zog sich durch die gesamte Fläche. Die beiden Nägel, mit denen der Spiegel an der Wand befestigt war, hatten sich mit den Jahren gelockert, und so kam es, daß er sich leicht vorneigte. Das Sofa der Kinder stand ihm genau gegenüber, und wenn sie hier saßen, konnten sie in dem verschleierten Glas ihre Spiegelbilder betrachten. Es sah aus, als säßen sie inmitten eines dichten Nebels.
»Ich wette, du wagst es nicht, bis vor Großmutters Tür zu schleichen«, sagte Gian, während der Sturm um das Schloß toste und gelegentlich ein Blitz die bunten Fenster erhellte.
Tess wurde aus der Betrachtung einer Spinne gerissen, die sich vom Kronleuchter zum Boden abseilte. »Klar trau ich mich.«
»Wetten nicht?«
»Wetten wohl!«
Damit war es gemachte Sache. Sie beschlossen, hinunter ins Erdgeschoß des Ostflügels zu laufen und sich gegenseitig einer Mutprobe zu unterziehen. Gian, der einsah, daß er als Mann mit gutem Beispiel vorangehen mußte, erbot sich, das Wagnis als erster einzugehen. Erst wenn er wieder in Sicherheit war, würde Tess an der Reihe sein. Dabei galt es, einmal die Hand auf die Klinke der unheilvollen Tür zu legen.
»Eigentlich ist das eine blöde Mutprobe«, meinte Tess, als sie den verlassenen Korridor erreichten, an dem Charlottes Gemächer lagen.
»Die Tür ist schließlich abgeschlossen.«
»Glaubst du wirklich?« fragte Gian gedehnt.
»Na, sicher.«
»Und was wäre, wenn ich gesehen hätte, wie einer der Diener die Tür gestern abend aufgeschlossen hat?«
Tess bekam große
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