Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
verhakte sich. Ein verborgener Mechanismus setzte sich mit einem schleifenden Laut in Bewegung. Die Rückseite des Kamins begann sich zu heben. Ein rechteckiges,
stockdunkles Loch wurde sichtbar.
Die Hexe schrie auf, Tess hatte ihr mit aller Kraft in die Finger gebissen. Ihre Klauenhand zuckte zurück, und das Mädchen begann aus vollem Hals zu schreien. Einen Augenblick lang sah es so aus, als könne es sich tatsächlich aus dem Griff seiner Peinigerin befreien. Dann aber festigte sich die Umklammerung der Hexe wieder, und die unverletzte Hand riß erneut an Tess’ blondem Lockenkopf.
Jakob wagte noch immer nicht, sich gegen die Herrin des Hauses zu stellen. Er war stets stolz auf seine Loyalität gewesen, und auch jetzt mußte er dazu stehen. Mit schleppenden Schritten trat er vom Kamin zurück und wollte nach der Hand des Jungen greifen.
Im selben Augenblick aber löste sich Gians Erstarrung.
Er wirbelte herum, trat dem Diener mit aller Kraft vors Schienbein und stürzte sich auf die Hexe. Seine kleinen Hände gruben sich in den weiten Stoff ihres Kleides,
zerrten und zogen, bis die Frau fast das Gleichgewicht verlor. Daraufhin begann Tess nur noch lauter zu kreischen, denn die Bemühungen der Hexe, sich auf den Beinen zu halten und zugleich das Mädchen nicht loszulassen, verstärkten das Reißen an ihrem Haar. Gian mußte einsehen, daß sein Ansinnen vergebens war – außerdem näherte sich ihm jetzt Jakob energisch von hinten.
Zwei weitere Hausmädchen und eine Küchenhilfe waren von dem Lärm angelockt worden. Wie versteinert standen sie an einer der Türen, trauten kaum ihren Augen. Keine wagte es, einzuschreiten.
Gian konnte nicht verstehen, warum die Erwachsenen tatenlos mitansahen, wie er und Tess mißhandelt wurden.
Mit tränenden Augen tauchte er unter Jakobs zuschnappenden Händen hinweg und stürmte auf die Freitreppe zu. Er sah noch, wie die Hexe mit Tess im schwarzen Rachen des Kamins verschwand, dann sprang er gehetzt die Stufen hinauf.
Jakob setzte halbherzig zur Verfolgung an, doch als ihm klar wurde, daß seine Herrin nicht länger zusah, ließ er den Jungen entkommen. Ihm war längst bewußt geworden, welches Unheil er angerichtet hatte, als er dem Befehl Charlottes, sie zu befreien, gehorcht hatte. Er schämte sich. Doch bis zur Rückkehr des Fräuleins würden er und die übrigen Bediensteten mit Charlotte auskommen müssen – und wer wußte schon mit Bestimmtheit, ob Aura tatsächlich von solch einer Reise zurückkehren würde, noch dazu in Begleitung ihres nichtsnutzigen Stiefbruders?
Während der alte Diener in der Halle zurückblieb,
erklomm Gian in Panik die letzten Stufen zum ersten Stock, ging hinter dem Geländer in Deckung und blickte zurück in die Tiefe der Halle. Tess und die Hexe waren fort, die Schreie des Mädchens verklangen. Lediglich Jakob stand noch unschlüssig vor dem Kamin, ehe ihn ein Befehl aus dem Abgrund aufforderte, hinab in den Schloßkeller zu steigen. So verschwand auch er aus dem Blickfeld des Jungen.
Gian befürchtete, daß Tess nun die Strafe für seine Flucht erdulden mußte. Er wagte sich nicht vorzustellen,
was die Hexe ihr antun mochte. Hexen waren nicht zimperlich, das wußte er, und seine Großmutter war offenbar ein besonders bösartiges Exemplar. Er wischte sich die Tränen aus den Augen, rappelte sich hoch und rannte weiter, ins Zimmer seiner Mutter, wo er den Ersatzschlüsselbund unter der Matratze hervorzog. Er wußte seit langem, daß er dort lag.
Mit dem klirrenden Bund in der Hand lief er weiter,
immer höher hinauf ins Schloß, bis er die Tür mit dem Vogelrelief erreichte. Er brauchte lange, um den richtigen Schlüssel zu finden. Endlich aber betrat er den Dachgarten und sperrte die Tür hinter sich zu.
Das tropische Dickicht, das den größten Teil des Dachbodens einnahm, machte ihm Angst. Zögernd näherte er sich der Blätterfront, wagte aber nicht, das verwobene Unterholz zu betreten. Statt dessen lief er hinüber zu einem der Sessel unter der Glasschräge, kauerte sich hinein, zog die Knie an und versuchte einzuschlafen.
Vielleicht würde so ja alles gut werden.
Aber natürlich schlief er nicht ein. Und nichts wurde gut. Das Dschungeldickicht brach plötzlich auseinander, und eine sanfte Stimme sagte: »Sei nicht traurig.«
Gian fuhr erschrocken auf. »Wer bist du?« fragte er furchtsam, als eine Gestalt aus dem Unterholz trat. »Ich will dir helfen.«
»Warum?« Gian drückte sich noch tiefer in den Sessel. Der Mann
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