Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
gemietet, nachdem sie die vergangene Nacht in einer kleinen Pension am Stadtrand von Zürich verbracht hatten. Wäre Gillian allein gewesen, hätte er auf Schlaf verzichtet und wäre noch am Abend zur Fahrt in die Berge aufgebrochen. Die Kinder aber hatten nach der langen Zugfahrt Ruhe und ein warmes Bett bitter nötig gehabt. Gillian war sich seiner Verantwortung für die beiden sehr wohl bewußt. Er wollte sie auf keinen Fall zu sehr belasten, zumal ihnen die größte Anstrengung noch bevorstand.
Er nahm rechts und links je einen der beiden bei der Hand, und so schritten sie gemeinsam durch das Tor. Der uralte Steinbogen war mit wildem Efeu umrankt. Seit drei Jahren hatte hier niemand mehr für Ordnung gesorgt. Die einstige Parkanlage war einer wuchernden Wildnis gewichen. Beete und Hecken, schon damals nur nachlässig in Form gehalten, waren zu ausuferndem Dickicht verkommen. Das Gras stand nach dem warmen Sommer kniehoch. Hier und da ragten Gesteinsbrocken zwischen den Halmen hervor, willkürlich verstreut; es wurden mehr, je weiter sie gingen.
Schließlich teilten sich Bäume und Dickicht, und vor ihnen wuchs eine zerfallene Ruine empor. Der frühere Eingang hatte die Explosionen wie durch ein Wunder heil überstanden, als hätten die Sprengungen zwar das Gebäude, nicht aber sein oberstes Gesetz zerstören können: Non nobis, Domine, non nobis sed nomine tuo da gloriam stand immer noch in Stein gemeißelt über der Tür.
»Nicht uns, Herr, nicht uns den Ruhm, sondern deinem Namen«, flüsterte Tess mit heller Stimme.
Gillian starrte sie an. »Du kannst das übersetzen?« »Nein«, sagte sie fest, »aber ich erinnere mich, was es bedeutet.«
Auch Gian nickte langsam. »Es sieht anders aus als früher. Damals war es noch nicht kaputt.«
Es klappt! frohlockte Gillian in Gedanken. Jetzt, wo sie hier waren, erinnerten sich die Kinder an die Details. Seine Hoffnungen waren berechtigt gewesen, ganz gleich, welche Einwände die anderen gehabt hatten. Die anderen – das waren jene Männer, die das Sankt-Jakobus-Stift vor drei Jahren mit Gillians Hilfe dem Erdboden gleichgemacht hatten.
Alles war damals ganz schnell gegangen: Erst hatten sie die Lehrerinnen in ihre Gewalt gebracht, dann die Schülerinnen aus ihren Zimmern gescheucht. Nachdem sichergestellt war, daß sich niemand mehr in dem Gebäude aufhielt, hatten Dutzende Dynamitstangen den Rest erledigt. Das einstige Templerkloster und Internat war in einer Kette von gewaltigen Feuerbällen und einem Regen von Gesteinssplittern zusammengestürzt. Die umliegenden Berghänge hatten das Donnern der Explosionen zurückgeworfen, ohrenbetäubend, verzerrend, bis es klang wie das ferne Gebrüll eines Urzeitgiganten. Die Mädchen waren zu ihren Eltern zurückgekehrt, die Lehrerinnen hatten sich in alle Winde verstreut.
Allein die Direktorin war nicht aufzufinden gewesen. Einige von Gillians Gefährten hatten vermutet, daß sie in den Trümmern ums Leben gekommen war. Er selbst aber war davon keineswegs überzeugt.
»Was ist hier passiert?« fragte Gian, als er in seinem Erinnerungserbe keine Antwort auf diese Frage fand.
»Das Gebäude wurde abgerissen«, erwiderte Gillian vage. Obwohl es erst drei Jahre her war, kam es ihm vor, als sei seither ein Vielfaches an Zeit verstrichen. Sein Leben hatte sich verändert, seine Sicht der Welt, er selbst. Er war nach wie vor überzeugt, daß es der einzige Weg gewesen war, die Morde an den Mädchen für immer zu beenden – ausgenommen die Möglichkeit, Morgantus selbst zu erledigen.
Aber der Alte war klug, zu klug für sie, wie sich gezeigt hatte. Möglich, daß er die Morde anderswo fortsetzte. Zumindest den Schutz des Internats aber hatte er verloren.
Gillian führte die Kinder zu den Stufen am Eingang. Sie hatten Risse bekommen, eine war weggebrochen. Ein zerfallener Mauerkranz, nirgends höher als fünf Meter, zeigte noch den achteckigen Grundriß des Gebäudes. Sein Inneres war mit Bergen aus Schutt angefüllt, deren steinige Hänge an manchen Stellen bis weit über die Mauer hinaus in die einstige Parkanlage reichten.
Hier und da verrieten noch verrottete Wimpel und Schnüre, wo die Schweizer Behörden das Gelände während ihrer Untersuchungen abgesperrt hatten. Niemand war Gillian und den anderen je auf die Spur gekommen. Nach drei ergebnislosen Jahren hatte die Polizei den Überfall längst zu den Akten gelegt. Zu verwirrend waren die Aussagen der Zeuginnen gewesen, zu diffus das Motiv für den Anschlag. Warum
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