Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
gegessener Fisch sein. Er ist glatt und rutschig und riecht entsetzlich. Nestor ist stolz darauf und drückt ihn an seine Brust. Jemand zieht an seinen Haaren, aber Nestor hämmert ihm die Faust ins Gesicht. Dann sieht er, daß es ein Mädchen ist – Mara. Sie lebt mit ihren Eltern zwei Hütten von seiner eigenen entfernt. Der Schlag wirft sie nach hinten, sie landet im Dreck. Ein Junge stolpert über sie, tritt ihr dabei – vielleicht nur versehentlich – in den Unterleib. Mara schreit. Nestor läßt den Fisch fallen, eilt zu ihr, will ihr aufhelfen. Sie schlägt ihn beiseite. Er stürzt. Mara robbt auf den Fisch zu, packt ihn, stemmt sich hoch und läuft los.
Nestor liegt im Morast, der ihn wie ein Sumpf in die Erde saugen will. Er kann nicht an das Essen denken, nicht an die Drohungen seines Vaters. Nur an eines: Er hat Mara geschlagen!
Alle kehren zurück ins Dorf. Jeder mit dem, was er zu fassen bekommen hat. Die drei, die sich um das Ochsenbein geschlagen haben, kriechen auf Knien und Händen im Dreck, tasten umher. Der Knochen und das Fleisch sind im Schlamm versunken, unauffindbar. Zwei der Jungen heulen, aus Angst vor den Schlägen, die sie zu Hause erwarten.
Auch Nestor weint. Er liegt allein am Fuß des Berges, über sich die Klostermauern. Neben seinem Gesicht ein paar Kohlblätter. Das ist alles. Sonst ist nichts übriggeblieben. Er war der erste. Der Schnellste.
Er hat Mara geschlagen.
Nestor betet.
Er liegt auf dem Bauch. Seine Arme und Beine sind gespreizt. Seine Lippen küssen den kühlen Stein des Kirchenbodens. Er ist sechzehn Jahre alt, das haben die Nachforschungen eines Mönches ergeben. Die letzten drei Jahre hat er im Kloster verbracht. Er liebt Gott, und Gott liebt ihn. Das ist gut so, und Nestor ist glücklich. Er muß keinen Hunger leiden, nur in der Fastenzeit. Dann hungert er gerne für Gott.
Er betet, damit es allen Menschen so gut geht wie ihm. Er hat die Jahre unten im Dorf nicht vergessen. Sein Vater ist schon lange tot, er wurde im Dunkeln von einem Fremden erstochen. Niemand war dabei. Niemand hat es gesehen. Von dem Mörder fehlte jede Spur.
Manchmal geht Nestor hinab ins Dorf und betet zusammen mit seiner Mutter. Dann umringen ihn die Kinder, und er segnet sie. Sagt ihnen, Gottes Liebe sei wichtiger als Essen. Wichtiger und unermeßlich. Jeder kann davon soviel haben, wie er möchte. Soviel, wie er verdient.
Nestor arbeitet in der Schreibstube des Klosters. Er kann wunderschöne Buchstaben malen. Anfangs wußte er nicht, was sie bedeuten, aber dann hat ihm einer der Mönche das Lesen beigebracht. Nestor spricht jetzt Lateinisch. Manchmal verhaspelt er sich, und dann treffen ihn die scharfen Blicke der anderen. Aber er ist noch jung, und seine Strafen für Versprecher fallen milde aus. Er muß einen Nachmittag lang auf dem Boden der Kirche liegen und beten. Allein mit Gott. Nestor genießt diese Zeit, er spricht gerne mit dem Herrn. Er fragt ihn, ob das ewige Leben so ist, wie die Mönche es sich vorstellen. Voller Gesänge und Licht und der Gnade des Himmels. Nestor würde gerne ewig leben, aber er weiß, daß er dafür ein sehr guter Mensch sein muß. Ein besserer noch als die übrigen Mönche, denn Sünde hat sein Leben gezeichnet. Gott allein weiß, wer seinen Vater erstochen hat.
Eine der ersten Aufgaben, die man ihm im Kloster gab, war es, Sorge für die Pflege des Kräutergartens zu tragen. Er hat eine gesegnete Hand für die Aufzucht von Pflanzen. Seit er sich darum kümmert, so hat ihm ein alter Mönch bestätigt, gedeihen die Kräuter viel prächtiger.
Nestor mag die Pflanzen. Weil sie nicht reden können, behalten sie Geheimnisse für sich. Wenn er Kummer hat, den er Gott nicht anvertrauen will (meist tut er es doch, aber erst später), beugt er sich beim Gießen und Harken und Jäten zu den Pflänzchen hinab und erzählt ihnen davon. Er empfindet das als große Gnade und ist den Pflanzen dankbar dafür. Er hat sich geschworen, immer gut zu den Pflanzen zu sein.
Während Nestor auf dem Kirchenboden liegt und betet, kommt draußen auf dem Klosterhof Lärm auf. Jemand stürmt herein und ruft Nestors Namen. Man brauche seine Hilfe, stammelt ein Mönch ganz außer sich. Frauen hätten ein Mädchen aus dem Dorf heraufgebracht. Es sei schwer verletzt, und es sei möglich, daß der Herr es bald zu sich rufe. Der Kräuterkundige sei unten bei den Bauern auf dem Feld, deshalb müsse Nestor in den Garten eilen und die nötigen Heilmittel besorgen.
Nestor nimmt
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