Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
hatte man die Zimmer vor den Explosionen nicht geplündert? Weshalb war keinem der Mädchen ein Haar gekrümmt worden? All das ergab für die Behörden keinen Sinn.
Die beiden Kinder blieben an der oberen Stufe stehen und blickten durch den offenen Eingang auf die Trümmerberge im Inneren der Ruine.
»Es war hier«, flüsterte Gian heiser.
»Genau hier«, pflichtete Tess ihm bei.
Gillian blieb einen Schritt zurück und hielt seine Ungeduld im Zaum. Er war unsicher, wie er sich verhalten sollte. Mußte er Fragen stellen, damit die beiden erzählten, was sie wußten? Oder würden sie von sich aus schildern, was einst hier geschehen war, vor Hunderten von Jahren?
»Der alte Mann war hier«, meinte Gian. »Morgantus.«
»Und mein Vater«, sagte Tess.
»Zusammen mit meinem Großvater. Hier haben sie von Morgantus gelernt.«
»Erzählt es mir«, bat Gillian, als er seine Neugier nicht länger unterdrücken konnte. »Erzählt mir, was eure Vorfahren hier erlebt haben. Ihr könnt es spüren, nicht wahr? Es ist in euch.«
Beide Kinder nickten, ohne ihn anzusehen. Ihre Blicke hingen wie gebannt an den Trümmern jenseits des Tores.
»Es ist, als hätten wir es selbst erlebt«, sagte Gian leise, und Tess piepste mit ihrem Kinderstimmchen: »Als wären wir dabeigewesen.«
»Wobei?« fragte Gillian beharrlich. »Was genau ist hier geschehen?«
Da drehten sich die Kinder mit einem Ruck zu ihm um.
KAPITEL 6
Eine von Nestors frühesten Erinnerungen.
Er kriecht auf allen vieren einen Berg hinauf, eine Rampe aus klumpiger Erde und niedergedrücktem Gras. Regen hat den Boden rutschig gemacht. Er hebt den Kopf, das Gesicht eines Kindes. Wasser plätschert ihm entgegen. Hinter ihm sind Stimmen. Andere folgen ihm, aber sie liegen noch viele Schritte zurück. Er ist der erste. Er ist der Schnellste.
Ein Knirschen ertönt. Oben an der Mauer kreischen Scharniere. Holz schwingt auf, und eine Öffnung entsteht am Fuß der hohen, grauen Wand. Jemand schreit etwas, dann prasseln Dinge aus der Öffnung den schlammigen Hang hinunter. Der Berg ist an dieser Stelle sehr steil. Als die Lawine aus der Maueröffnung Nestor erreicht, hat sie bereits die Kraft eines wütenden Ochsen. Faule Kohlköpfe, abgenagte Knochen, stinkende Fleischbatzen, sogar ein paar Fischgräten – am Ende der Woche sind immer Fischgräten dabei – purzeln Nestor entgegen, reißen ihn nach hinten, überrollen ihn. Die Mönche im Kloster haben drei Fässer mit Essensresten ausgeleert, sie den Armen zum Fraß vorgeworfen. Nestor ist der erste, der schnellste. Aber auch einer der jüngsten und schwächsten.
Die Abfallawine schlittert über ihn hinweg, zieht ihn mit sich in die Tiefe, den übrigen Jungen und Mädchen entgegen. Sie haben unten gewartet, dort, wo das Gelände flacher wird, wo es den Fall der Essensreste abbremst. Sie nehmen sich nicht einmal die Zeit, über Nestor zu lachen. Alle stürzen sich auf das Essen, jeder rafft an sich, was er fassen, was er tragen kann. Manche schlagen, andere schreien. Blut fließt, Haare werden ausgerissen. Jemand zieht den Kamm einer Fischgräte mitten durch Nestors Gesicht. Die Spitzen reißen seine Haut auf. Noch immer hat er nicht ein einziges Teil aus dem Abfall ergattern können. Sein Vater wird ihn mit dem Stock schlagen, wenn er nicht wenigstens ein paar Kohlköpfe mit nach Hause bringt. Nur ein paar Kohlköpfe.
Aber die anderen sind stärker. Bald hat jeder die Arme voll mit Fleisch und Knochen und verfaultem Gemüse. Die ersten rennen schon zurück ins Dorf, um ihre Schätze in Sicherheit zu bringen. Ihre Eltern sind auf dem Feld. Es ist die Aufgabe der Kinder, die Gaben der Mönche zu sammeln. Die Mönche sind gute Menschen. Sie haben immer etwas für die Armen übrig.
Nestor liegt noch im Schlamm, versucht zwischen zugreifenden Händen, balgenden Kinderleibern und Tritten und Schlägen auf die Beine zu kommen. Die besten Stücke sind schon fort. Jemand hat das Bein eines Ochsen ergattert, mit genug Fleisch daran, um die Familie davon zwei Tage zu ernähren. Zwei andere nehmen die Verfolgung auf, wollen ihm seine Beute streitig machen. Alle drei rutschen im Morast aus, rollen kreischend übereinander. Nestor sieht es und denkt: Die Mönche haben es leichter. Sie müssen um ihre Nahrung beten, nicht kämpfen. Der Himmel gibt ihnen, was sie brauchen. Der Himmel – und die Bauern auf den Feldern.
Er bekommt etwas zu fassen, das wie alles andere fingerdick mit Schlamm überzogen ist. Es könnte ein halb
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