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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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über schmale Vorsprünge am Abgrund entlangzuhangeln. Die Wogen hatten sich in der Tiefe unter ihm gebrochen, und der Seewind hatte an seiner Kleidung gezerrt. Deshalb hatte ihn mehr als schlichter Stolz erfüllt, als er auf die Leiter zum Dach gestoßen war; es war ein Triumph, ohne Zweifel. Hier hatte er eine Möglichkeit, den Giebel auf anderem Wege als durch die Relieftür zu betreten und auszukundschaften. Ein Abenteuer, und mehr als das. Noch immer loderte die Neugier in ihm, vor allem jetzt, da er beinahe am Ziel war.
    Lautlos kletterte er über die Balustrade und näherte sich der Glastür. Der Riegel an der Innenseite war nicht vorgeschoben. Nur Herzschläge später stand er im Inneren, zog die Tür leise hinter sich zu. Die Luft war stickig und warm, Feuchtigkeit perlte an den Scheiben herab. Einen Moment lang glaubte er, nicht durchatmen zu können, dann gewöhnten sich seine Lungen an den schweren Dunst.
    Die Erinnerung an die Schreie kehrte zurück. Und mit ihnen die Furcht, die er in der vergangenen Nacht empfunden hatte. Auch jetzt hatte er Angst, doch er sagte sich, daß ihm im Grunde nicht viel geschehen konnte. Nestor war jetzt sein Stiefvater, wenn auch allein auf Charlottes Wunsch; Christopher bezweifelte stark, daß der Alte mit seiner oder Daniels Adoption einverstanden gewesen war. Wahrscheinlich hatte Charlotte ihn gar nicht gefragt.
    Würde Nestor ihm etwas antun? Sicher, es mochte Prügel geben, aber daran war er aus dem Heim gewöhnt. Wichtiger war: Würde Charlotte ihn zurückschicken?
    Er machte sich auf, das Dickicht zu umrunden, bis ihm klar wurde, daß er zwischen den Bäumen geschützter war. Zögernd schob er Zweige und große Blattwedel beiseite, leise, fast lautlos.
    Schon nach wenigen Schritten stand er inmitten einer anderen Welt. Rund um ihn herum erhob sich ein finsteres Geflecht aus Ästen und schmalen Stämmen, aus Blattwerk und Ranken. Einige der Pflanzen wirkten vollkommen fremdartig, er konnte sich nicht erinnern, sie je in einem von Markus’ Büchern gesehen zu haben. Zudem bereitete ihm der Urwald Unbehagen. Gemeinsam mit der Hitze und der hohen Luftfeuchtigkeit drückte die fremdartige Stimmung wie ein Gewicht auf Christophers Gemüt.
    Von rechts, dort, wo sich auch die einzige Lichtquelle befand, ertönte ein Scheppern, dann leises Fluchen. Nestor! Zu weit weg, um Christopher bemerkt zu haben, irgendwo auf der anderen Seite des Dickichts.
    Als er weiterging, traten seine Füße plötzlich in schmale Bewässerungsrinnen, die kreuz und quer durch den Boden verliefen. Unwillkürlich fragte er sich, wann und vor allem wie all das angelegt worden war. Allein das Erdreich und die Pflanzen hier heraufzubringen mußte Wochen, gar Monate gedauert haben. Der Größe der Bäume nach zu urteilen, waren sie schon vor Jahrzehnten gesetzt worden. Möglich, daß Nestor den Garten von einem seiner Ahnen geerbt hatte.
    Wie auch immer, es war fraglos ein kleines Wunder, das der Alte unter seinem Dach versteckte.
    Christopher schrak auf. Zu seiner Linken raschelte etwas.
    Noch einmal. Ganz nah!
    Ihm blieb keine Zeit zur Flucht. Plötzlich brach etwas zwischen den Blättern hervor. Etwas Spitzes, eine Klinge, schoß auf Christopher zu, gefolgt von … ja, von einem Vogel!
    Die Klinge war ein Schnabel, fast einen halben Meter lang, und das Tier selbst reichte Christopher bis übers Knie. Kurze Beine, ein heller Leib und dunkle Flügel. Dazu ein langer, geschwungener Hals.
    Ein Pelikan! durchfuhr es ihn, während er panisch nach Atem rang. Doch seine Erleichterung währte nur Sekunden.
    Einige Herzschläge lang blinzelte der Vogel ihn aus pechschwarzen Augen an, dann klappte sein Schnabel auf wie eine riesige Schere. Ohrenbetäubende Schreie drangen aus dem dürren Hals. Dieselben wie in der Nacht.
    Christopher stolperte überrascht zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte mit Gepolter zu Boden. Seine Hände patschten in eine der Bewässerungsrinnen, sein Hinterkopf schrammte an einem Palmenstamm entlang. Derweil hüpfte der Pelikan im Kreis um ihn herum und schrie wie am Spieß. Lauter noch, immer lauter.
    Nur Augenblicke später teilte sich vor Christopher die Blätterwand, zwei Hände erschienen, dann ein Gesicht.
    »Das darf doch nicht –!« Nestor verstummte, Zorn verschlug ihm die Sprache. Er stürzte vor, packte den unglücklichen Christopher an den Haaren und riß ihn mit unvermuteter Kraft in die Höhe.
    Christopher und der Pelikan brüllten einen Augenblick lang um die

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