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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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umrunden können. Nur flaches, windgepeitschtes Grasland, hin und wieder ein karges Waldstück und, ein wenig weiter südlich, ausgedehnte Moore. Der alte Institoris schien sich auf jede nur erdenkliche Weise vom Rest der Menschheit abzuschotten.
    Der Kutscher warf Gillian beim Absteigen einen langen Blick zu. Er schien zu bemerken, daß irgend etwas mit seinem Fahrgast nicht stimmte. Da war etwas im Äußeren des Fremden, eine seltsame Sanftheit in den Zügen. Irgendwie fraulich, dachte er irritiert, ohne es an bestimmten Eigenschaften festmachen zu können. Aber es war etwas, das ihn zu seiner Verwirrung anzog, etwas, das ihn gar dazu brachte, abzusteigen und die Tasche des Fremden bis zur Tür des Gasthauses zu tragen. So etwas tat er sonst nur, wenn Frauen mit ihm fuhren, attraktive Frauen, was selten genug vorkam. Erstaunt über sich selbst schüttelte er den Kopf, als er seinen Pferden die Peitsche gab.
    Gillian trat eilig aus dem beißenden Wind in den Gasthof, in dem so früh am Tag noch keine anderen Gäste waren. Er bezog ein Zimmer mit Blick auf die Dünen, zahlte für zwei Tage im voraus und gab dem Wirt ein genau bemessenes Trinkgeld, das den Mann freundlich, aber nicht mißtrauisch stimmen sollte.
    Später, nachdem er drei Stunden geschlafen hatte, stand er auf, zog wegen der Kälte doch noch das zweite Hemd über und trat ins Freie. Eilig, aber nicht überhastet, schritt er durch die Dünen zum Meer. Der Wind war immer noch scharf und eisig. Gillian zog mit beiden Händen den Kragen seiner Jacke enger und verfluchte Lysander und seinen erbärmlichen Auftrag.
    Er hatte die Inselgruppe von seinem Fenster aus sehen können, jenseits des kilometerbreiten Sandstreifens. Die Distanz bis ans Wasser hatte kürzer gewirkt, als sie in Wirklichkeit war. Vor allem der weiche Sand hielt ihn auf, machte bald schon jeden Schritt zur Tortur. Sicher, er hätte den markierten Pfad nehmen können. Dann aber wäre er das Risiko eingegangen, einer Kutsche über den Weg zu laufen, die Bedienstete des Schlosses zurück zum Dorf brachte. Nein, ihm blieb nur der Marsch quer durch die Dünen.
    Über dem Meer war die Wolkendecke aufgerissen. Die untergehende Sonne glänzte hinter ausgefransten Dunsträndern. Die Sandhügel hatten hier eine gelblichweiße Färbung, zum Meer hin aber schimmerten sie rötlich. Quarz und Feldspat schufen diese eigentümliche Erscheinung, und Gillian konnte trotz aller Mühen nicht umhin, die Schönheit des Anblicks zu bestaunen.
    Als ihn nur noch hundert Meter vom Wasser trennten, verquollen die Herbstwolken miteinander, der Sonnenschein verging, und trister Dämmer legte sich über die Küste. Möwen kreischten in den Höhen, hier und da zog ein Seeadler seine Runden. Das alles stimmte Gillian nur noch schwermütiger, ließ ihn sein Vorhaben um so ärger verabscheuen. Er hatte genug von solchen Aufträgen, endgültig genug.
    Hinter der letzten Düne ließ er sich nieder, las noch einmal Lysanders Schreiben von vorne bis hinten, prägte sich jedes Detail, jede Bemerkung haargenau ein. Dann stieg er über die Hügelkuppe und betrachtete das Schloß.
    Die Ähnlichkeit mit dem Gemälde in Lysanders Halle war frappierend, aber keineswegs vollkommen. Der wichtigste Unterschied war der, daß die mächtigen Blöcke rechts und links des Zypressenhains keine Felsen, sondern Teile eines Gebäudes waren. Auch die fünf kleinen Inselchen, die sich rund um das Schloß gruppierten, waren auf dem Bild nicht zu sehen gewesen. Auf einer, der nördlichsten, erhob sich ein Leuchtturm.
    Ganz in Gillians Nähe ruhte ein langer Steg auf dem Wasser, an dem zwei Boote festgemacht hatten. Das eine war ein kleiner Segler mit zwei Masten, das andere eine winzige Jolle. Die Männer, die mit dem Segler angelegt hatten, mußten unter Deck oder im Dorf sein. Weit und breit war kein Mensch zu sehen.
    Gillian kletterte in die Jolle, löste das Tau und tauchte beide Ruder ins Wasser. Die hereinbrechende Dunkelheit machte ihn vom Schloß aus unsichtbar. Nur ein grauer Fleck auf den Wogen.
    Er zitterte, obgleich ihm das Rudern den Schweiß aus den Poren trieb. Der bitterkalte Wind peitschte über die See landeinwärts, wühlte das Wasser auf und wehte Gischt in Gillians Augen. Abermals hatte er sich in der Zeit getäuscht, die er vom Strand bis zu den Inseln benötigte. Es war kaum mehr als ein halber Kilometer, aber er mußte gegen die hereinrollenden Wellen anrudern, und bald schon schmerzten seine Arme vor Entkräftung.
    Zwanzig

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