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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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recht verstehen können, fand es ungerecht und gemein, doch seit ein, zwei Jahren glaubte sie zu wissen, was Sylvette in Charlottes Augen so viel liebenswerter machte. Denn ihre Mutter hatte ein Geheimnis.
    Aura hatte sie nie darauf angesprochen, doch vielleicht war es nun an der Zeit. In den nächsten drei Jahren würde sie keine Gelegenheit mehr dazu haben.
    »Weiß Friedrich es eigentlich?« fragte sie mit samtweicher Stimme, ohne Charlotte dabei anzusehen, scheinbar völlig auf ihre Schuhe konzentriert.
    Sie hörte, wie ihre Mutter scharf die Luft einsog. »Was meinst du damit?« Plötzlich trat sie vor, packte Auras Kinn und zog es hoch, bis sie ihr in die Augen blicken konnte. »Was soll Friedrich wissen?«
    Aura wünschte sich plötzlich, sie hätte ihren Mund gehalten. Es war nicht richtig. Sie führte sich auf wie ein Biest. Trotzdem fühlte sie sich so entsetzlich gut dabei. Die Unsicherheit in Charlottes Zügen und erstmals, ja, wirklich zum ersten Mal, die unverhohlene Ablehnung in ihrem Blick. Nun also war es soweit. Endlich würden sie ehrlich zueinander sein.
    Aura legte allen Trotz in ihre Stimme. »Weiß er, daß er Sylvettes Vater ist?«
    Schweigen. Und eine Hitze, die Aura in den Kopf schoß, als hätte sie sich an einem offenen Feuer verbrannt.
    Charlotte holte aus und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige.
    Aura regte sich nicht. Sie blieb auf der Bettkante sitzen und erwiderte traurig Charlottes Blick.
    »Warum tust du das?« fragte ihre Mutter leise. Ihre Stimme war nur mehr ein kraftloser Hauch. »Warum tust du mir das an?«
    »Du selbst hast es dir angetan, Mutter. Es ist ganz allein deine Schuld.«
    Charlotte schien in sich zusammenzusinken, einen Atemzug lang. Dann aber straffte sie sich und fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung über die Augen. Ihre Schminke verwischte. »Es war Nestor, nicht wahr? Er erzählt dir solche Dinge.«
    »Nein, Mutter. Er hat nichts damit zu tun. Aber es gehört nicht viel dazu, die Wahrheit zu erkennen.«
    »Dann hör mir gut zu: Was auch immer du für die Wahrheit halten magst – alles ist ganz anders.« Charlotte fuhr herum, riß die Tür auf und trat auf den Flur. » Ganz anders, verstehst du?«
    Die Tür flog zu, und Aura blieb allein zurück, gebadet ins Farbenlicht des Glasmosaiks. Zornig über ihre eigene Boshaftigkeit packte sie einen ihrer Schuhe, holte aus und schleuderte ihn mit aller Kraft gegen das Fenster. Die Scheibe hielt stand, der Schuh prallte polternd zu Boden.
    Warum habe ich das nur gesagt? dachte sie verzweifelt.
    Wie konnte ich nur so was zu ihr sagen?
    Aura ließ sich ins Bettzeug zurücksinken und begann, endlich, zu weinen.
    ***
    Gillian wollte eine Tageszeitung kaufen, als er am Mittag aus dem Zug stieg, doch der Bahnhof war so klein, so armselig, daß es nicht einmal einen Kiosk gab.
    Der Hermaphrodit war der einzige Fahrgast, der hinab auf den Bahnsteig sprang. Die Tasche mit Kleidung und ein paar unnützen Werkzeugen, die Stein und Bein ihm bei der Abfahrt aufgedrängt hatten, hätte er am liebsten im Abteil stehenlassen. Sie würde ihm nur hinderlich sein. Außerdem brauchte er sie nicht, weder die Waffen darin noch das Hemd und die Hose. Spätestens übermorgen würde er zurückfahren. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, daß seine Aufgabe dann erledigt war.
    Die ungeliebte Tasche in der Rechten, ging er an dem winzigen Aufseherhäuschen vorbei auf die Vorderseite der Bahnstation. Es gab weder eine Schalterhalle noch sonst einen Raum, in dem er sich hätte aufwärmen können, und so stand er fast eine Stunde lang in zugiger Kälte, ehe er in der Ferne ein Pferdegespann heranrumpeln sah.
    Die Station lag einsam inmitten einer grasbewachsenen Ebene, die irgendwo im Norden an die Dünen grenzte. Der schwarze Strang des Bahndamms schnitt die karge Landschaft schnurgerade in zwei Hälften. Er war das einzig Auffällige unter dem grauen Oktoberhimmel. Gillian hatte auf einer Karte gesehen, daß es in einiger Entfernung von hier ein Dorf gab, ungefähr eine halbe Stunde weiter östlich. Von dort aus war es nur noch ein Katzensprung – und, leider Gottes, eine Bootsfahrt – bis zur Schloßinsel der Familie Institoris. Gillian haßte Boote, und er verabscheute die See.
    Das Pferdegespann brachte ihn über eine holprige, vollkommen gerade Straße ins Dorf. Kurven und Biegungen schien man hier nicht zu kennen, in einer Landschaft wie dieser waren sie schlichtweg überflüssig. Es gab keine Hügel, keine Berge, die man hätte

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