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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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betreten, es sei denn auf ausdrückliche Anweisung. Das aber schreckte Aura weniger als die Vorstellung, noch tiefer ins Innere des Sankt-JakobusStifts vorzudringen. Sie überwand ihre Angst nur mit Mühe, ihre Schritte waren zögernd und unsicher.
    Mach dich nicht verrückt! hämmerte sie sich ein. Es wird dich schon niemand erwischen.
    Aber wem gehörten dann die leisen Stimmen, die aus dem Keller heraufdrangen?
    Die eine klang vertraut. Ja, es war die Direktorin. Die andere war rauher, heiser fast. Empfing Madame de Dion in der Nacht einen Mann, gar einen Geliebten, in ihren Räumlichkeiten? Das wäre eine Erklärung, aber eine, die Aura für reichlich absurd hielt. Wenn es eine Frau auf der Welt gab, die nicht das geringste Interesse an Männern zeigte, dann war es wohl Madame de Dion. Nicht umsonst nannten die Mädchen sie den Monseigneur. Und doch, auch Aura vermochte nicht in den Kopf der Direktorin zu schauen.
    Gebannt von ihren eigenen Phantasien schlich sie weiter. Am Fuß der Treppe lag ein niedriger Vorraum, nur ein schmaler Streifen, in dessen Rückwand sich eine Tür befand. Sie stand schulterbreit offen. Dahinter verlief ein kurzer Gang, von dem rechts und links zwei weitere Durchgänge abzweigten. Am anderen Ende gab es noch eine Tür, auch sie war geöffnet.
    Und jenseits davon stand, die Hände auf die knöchrigen Hüften gestützt, die Direktorin. Sie hatte der Tür den Rücken zugewandt und flüsterte eindringlich auf jemanden ein, den Aura von ihrem Standort aus nicht sehen konnte.
    Aura blieb einen Moment lang stocksteif stehen, dann zog sie sich eilig zurück. Sie hatte noch gesehen, wie eine gebückte Gestalt an Madame de Dion vorübereilte. Der Unbekannte trug etwas auf den Schultern, ein Bündel.
    Irgend etwas wurde hier verladen, etwas, das sich im Keller unter dem Innenhof befand. Aura vermutete, daß der Fremde den Pferdekarren zum Hintereingang des Stifts gelenkt hatte, um weiteres Aufsehen zu vermeiden.
    So leise wie möglich pirschte sie die Treppe hinauf in die Eingangshalle und versuchte, durch das Haupttor ins Freie zu gelangen. Es war abgeschlossen. Sie wandte sich einem der schmalen Schartenfenster zu, entriegelte und öffnete es. Die Fenster waren nicht vergittert, da in einer abgelegenen Gegend wie dieser kaum mit Einbrechern zu rechnen war. Und nächtliche Fluchtversuche hatte es seit den beiden Mädchen, die sich in den Wäldern verlaufen hatten, nicht mehr gegeben.
    Mit einem leisen Ächzen sprang sie ins Freie und kam neben einer der hohen Eingangssäulen am Boden auf. Sie zog das Cape wieder um die Schultern und schlug die weite Kapuze über den Kopf. Dann lief sie los, rund um das achteckige Stiftsgebäude und seine Anbauten, immer bemüht, unterhalb der Fenster zu bleiben. Nirgends brannte Licht, das ganze Gebäude schien von außen wie ausgestorben. Die Hecken und Tannenzeilen des Parks kauerten wie schlummernde Riesen im Dunkeln, schwarze, formlose Flecken auf der mondbeschienenen Wiese.
    Im feuchten Gras konnte Aura Spuren von Wagenrädern erkennen, die Halme waren entlang zweier Schneisen niedergedrückt. Hinter dem letzten Anbau, dem Gärtnerschuppen des alten Marek, blieb sie stehen, preßte sich an die Wand und schaute zaghaft um die Ecke.
    Wie sie vermutet hatte stand der Pferdekarren vor dem Hintereingang des Internats, keine zwanzig Meter von ihr entfernt. Eine Gestalt, die ein ähnliches Cape trug wie sie selbst, altmodischer jedoch und an den Rändern ausgefranst, warf gerade einen Wäschesack von der Schulter auf die Ladefläche, zog und zerrte die übrigen Bündel zurecht und entfernte sich gebückt wieder in Richtung der Hintertür. Ein Gesicht war nicht zu erkennen, auch der Unbekannte hatte seine Kapuze hochgeschlagen. Augenblicke später war er wieder im Inneren des Stifts verschwunden.
    Aura wußte, daß das Internat größere Wäschestücke wie Bettzeug und die Tischdecken aus dem Speisesaal nicht selbst reinigte, von daher war ein Wäschetransport an sich nichts allzu Ungewöhnliches. In Anbetracht der gewaltigen Entfernung zwischen Stift und Stadt war es zudem nicht unbedingt verwunderlich, daß der Karren erst bei Nacht im Internat eingetroffen war.
    Aura verwarf alle Warnungen ihrer Vernunft und zögerte nicht länger. Blitzschnell löste sie sich aus dem Schatten des Gärtnerschuppens und rannte hastig über die freie Fläche zum Karren hinüber. Das hier war ihre Chance, die erste in vier Monaten, und sie wollte nicht noch einmal so lange warten.

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