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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Christopher empört. Deshalb also ließ sich die Blutung nicht stillen. Daniel frischte die Flecken künstlich auf! Warum? Darauf eine Antwort zu finden war nicht schwer: Damit ihm Charlottes Mitgefühl und Fürsorge auch weiterhin sicher waren, damit jeder hier im Schloß ihn auch fortan bedauerte und wegen seines ach-so-schweren Schicksals bemitleidete.
    War denn niemand auf dieser Insel das, was er auf den ersten Blick zu sein schien? Gab es hier denn nichts als seelische Krüppel?
    Doch plötzlich dachte Christopher angstvoll: Und wenn es dieser Ort ist? Wenn uns die böse Vergangenheit der Insel alle in den Wahnsinn treibt?
    Im selben Augenblick stand Daniel auf, blies die Kerze aus und ging achtlos an der dunklen Bodenöffnung vorbei zur Tür. Als das Licht vom Korridor hereinschien, erkannte Christopher ein feuchtes Glitzern auf Daniels Wangen. Dann aber erlosch das Licht, und die Tür fiel leise ins Schloß.

KAPITEL 6
    Der Schmerz beim Lösen der Ringe war viel schlimmer als das kurze Brennen beim Hineinstechen. Damals hatte Aura sie in einer Art Tobsuchtsanfall durch die Haut ihrer Schenkel gestochen, alle achtunddreißig, doch heraus zog sie sie einzeln, mit Bedacht und in angstvoller Erwartung der Pein.
    Heute war es der vierte Ring. Ihr vierter Monat im Internat war verstrichen. Genaugenommen war sie schon einen Tag zu spät dran, und mit Entsetzen hatte sie festgestellt, daß die gefürchtete Gleichgültigkeit bereits eingesetzt hatte – Aura hatte den Termin schlichtweg vergessen.
    Ein einzelner Blutstropfen rollte an der hellen Innenseite ihres Schenkels hinab; sie hielt ihn mit der Fingerspitze auf, kurz bevor er das weiße Bettzeug berühren konnte. Mit einem Tuch tupfte sie die Wunde ab, dann zog sie die Bettdecke über ihre Beine. Draußen auf dem Flur ging das Licht aus. In spätestens einer halben Stunde würden sie auch die Zimmerbeleuchtung löschen müssen. So war es Gesetz hier im Stift.
    »Tut das nicht höllisch weh?« Cosima blickte von ihrem Bett aus immer noch gebannt auf die Stelle, an der sich Auras Beine unter der Decke abhoben. Ihr Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, als wäre sie diejenige, die den Schmerz erdulden mußte.
    »Ein wenig«, erwiderte Aura und warf den Ring in die Schublade ihres Nachttisches. Er klimperte neben die drei anderen. Noch vierunddreißig würden dazukommen, ehe Aura das Internat verlassen durfte. Aber so lange wollte sie nicht warten.
    Zweimal schon war sie drauf und dran gewesen, einen Fluchtversuch zu wagen. Einmal gleich in jener Nacht, nachdem sie den schrecklichen Brief gelesen hatte, und noch ein weiteres Mal zwei Wochen später. Beide Male war sie bis zur Mauer des Parks gelaufen, beim zweiten Mal sogar darüber hinweggestiegen, ehe sie sich an Cosimas Warnung erinnert hatte. Es war zu weit bis zur Stadt, und zu groß war die Gefahr, sich im Gebirge zu verirren.
    Seitdem wartete sie, daß eine Kutsche zum Internat heraufkam, die sie mit ins Tal nehmen würde. Doch freilich, welcher Kutscher unterstützte schon die Fluchtversuche einer Internatsschülerin? Und so war der heißersehnte Augenblick bisher ausgeblieben.
    Cosima legte den Kopf schräg und schaute Aura nachdenklich an.
    »Warum sträubst du dich so sehr dagegen, hier zu sein? Es wird nicht angenehmer, wenn du dir ständig sagst, wie entsetzlich es hier ist.«
    Aura hatte ihr nichts von dem Brief erzählt, und so wich sie den Fragen ihrer Freundin auch diesmal aus. »Sag mir, wie ich sonst in diesem Irrenhaus einen klaren Kopf bewahren soll.«
    »Laß dich darauf ein«, sagte Cosima halbherzig. »Versuch einfach, das Beste daraus zu machen.«
    »Toller Ratschlag.«
    Die junge Italienerin lächelte verständnisvoll. »Es ist immer noch der beste Weg. Tu das, wofür deine Eltern eine Menge Geld bezahlen: Lies Bücher, hör beim Unterricht zu, und laß dir gutes Benehmen beibringen.«
    »Das sagst gerade du?« Aura schüttelte amüsiert den Kopf. Cosima war alles andere als eine fleißige Schülerin. »Bei der nächsten Gelegenheit bin ich hier weg.«
    »Auf diese Gelegenheit warten andere schon seit Jahren.«
    »Sie kommt noch, warte ab.«
    Cosima murmelte etwas Unverständliches und kicherte. Dann zog sie sich die Decke bis ans Kinn.
    Aura war nicht nach Scherzen zumute. Und doch hatte Cosima sie schon Dutzende Male aufgeheitert, wenn ihre Stimmung auf dem Tiefpunkt gewesen war. Dafür war Aura ihr dankbar, wie auch für die Tatsache, daß sie niemandem von den Ringen und Auras

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