Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
oder vier kleine Räume beherbergte. Das ganze Gebäude schien verzogen, als neige es sich langsam nach rechts. Wahrscheinlich hatte es jahrelang leergestanden, ehe sein jetziger Bewohner es als Unterschlupf gewählt hatte. Das einzige Fenster an der Vorderseite war von innen verhängt, die Haustür aber stand immer noch offen. Kerzenlicht fiel hinaus in die Nacht, ein trüber Lichtbalken, der sich vom Haus bis weit über die Wiese zog. Aus dem Inneren ertönte ein dumpfes Rumpeln. Vermutlich lud der Vermummte seine Last ab.
Auras Panik schraubte sich in neue Höhen, um dann, fast schlagartig, einer schockartigen Ruhe zu weichen. Für einen Augenblick gelang es ihr sogar, ein paar klare Gedanken zu fassen. Der erste war: Ich muß weg von hier! Der zweite: Was wird dann aus dem anderen Mädchen?
Sie zweifelte jetzt nicht mehr daran, daß es sich bei dem Bündel um eine ihrer Mitschülerinnen handelte. Betäubt wahrscheinlich, auf alle Fälle hilflos. Sie wußte nicht, was der Vermummte mit ihr vorhatte. Ihre Phantasie überhäufte sie mit einer Vielzahl von Antworten; eine war scheußlicher als die andere.
Schnell, ehe die Gestalt wieder an die Tür kommen konnte, umrundete sie den Karren und näherte sich dem Fenster. Ihre Vernunft war nun endgültig ausgeschaltet, alles, was sie vor ihrem inneren Auge sah, war das Mädchen, das sich vor dem Vermummten in einer Ecke der Hütte verkroch. In Auras Vorstellung hatte es ihr eigenes Gesicht.
Das Fenster war zu sorgfältig verhängt, um auch nur einen zaghaften Blick ins Innere zu gestatten. Vielleicht gab es ja noch eines. Aura lief auf die nächste Ecke der Hütte zu und schlich entlang der fensterlosen Seitenwand nach hinten. Auch dort gab es keine Öffnungen. Zwischen Rückseite und Felswand befand sich eine Kluft von zwei Schritten, in deren Mitte sich eine Art Sickergrube befand, ein formloses Loch, von dem ein bestialischer Gestank aufstieg. Wenn Aura das Haus ganz umrunden wollte, mußte sie sich wohl oder übel an der Grube vorbeizwängen.
Sie wählte unwillkürlich den schmalen Steg an der Felswand entlang, fast als warne sie etwas davor, mit der Hütte in Berührung zu kommen. Die Finsternis in dem Spalt verdeckte gnädig den Inhalt der Grube. Aura glaubte, an mehreren Stellen etwas Fahles darin schimmern zu sehen, umgeben von dunkler Schlammkruste. Ihr Wunsch, von hier zu verschwinden, wurde nur noch drängender. Erdreich bröckelte unter ihren Schuhen in das Loch, während sie sich an der Felswand entlangpreßte. Einen Augenblick lang fürchtete sie, sie könne abrutschen und hineinfallen. Der Gestank fraß sich durch Nase und Mund, nahm ihr fast die Sinne.
Dann war sie endlich an der Grube vorbei und eilte mit großen Schritten zur nächsten Ecke. Vorsichtig schaute sie herum, doch da war niemand. Das Gras war hier von Furchen durchzogen, als wäre mehr als einmal etwas nach hinten geschleift worden, zur Grube.
Auch diese Seitenwand besaß kein Fenster. Mittlerweile war Aura fast froh darüber. Doch der Gedanke an das wehrlose Mädchen in der Hütte blieb, trieb sie weiter, machte sie ganz schwindelig vor Wut und Ekel und Furcht.
Als sie erneut die Vorderseite erreichte, war die Tür der Hütte geschlossen. Zitternd blickte Aura sich um, doch der Vermummte war nirgends zu sehen. Karren und Pferd standen unverändert vor der Tür, kein weiterer Sack war abgeladen worden. In allen anderen mußte sich tatsächlich Wäsche befinden.
Im selben Augenblick drang durch die Holzfassade des Hauses ein gellender Schrei. Ein dumpfer Schlag ertönte, noch ein Schrei, schwächer diesmal – dann Stille.
Aura legte das Ohr ans Holz. Aus dem Inneren erklang ein kaum hörbares Schleifen, dann schlug eine Tür. Entweder hatte der Vermummte das Mädchen in ein anderes Zimmer gesperrt, oder aber er hatte sich gemeinsam mit seinem Opfer dorthin zurückgezogen. Möglich also, daß der Raum hinter der Hüttentür jetzt leer war.
Es war Wahnsinn, natürlich. Dennoch näherte sich Aura dem Eingang, preßte leicht dagegen. Fingerbreit gab er nach. Ein zaghafter Blick ins Innere, dann ein Stoßgebet.
Niemand war zu sehen. Vor einem gemauerten Kamin, voll mit kalter Asche, lag ein dunkler Stoffetzen – ein Tuch, in dem das Opfer eingewickelt gewesen war. Von der Balkendecke hingen Sträuße aus getrockneten Kräutern. Im Kerzenlicht warfen sie groteske Schatten. An einer der Seitenwände stand eine Pritsche, darauf lag eine zerknüllte Decke. Eine feine Blutspur zog sich
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