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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Fluchtplänen erzählte. Insgeheim trugen sich wahrscheinlich alle Mädchen hier im Stift mit dem Gedanken, eines Tages heimlich von hier zu verschwinden, und Aura wußte, daß das vor allem auf Cosima zutraf, obgleich sie es nicht so offen zeigte wie andere.
    Sie löschten das Licht, und wenig später schon war Aura eingeschlafen.
    Irgendwann, mitten in der Nacht, wachte sie auf. Sie horchte, vernahm aber keinen Ton in der Stille. Der Mondschein erhellte die Vorhänge. Sie sah, daß Cosima sich in ihre Decke eingerollt hatte und tief und fest schlief. Ein Traum mußte Aura geweckt haben. Sie streckte sich, kuschelte sich wieder in ihr Bettzeug und versuchte, weiterzuschlafen.
    Da ließ ein Geräusch sie abermals aufschrecken. Noch im selben Augenblick wurde ihr bewußt, daß es der gleiche Laut gewesen war, der sie vorhin geweckt hatte. Und da, noch einmal!
    Aura sprang auf und huschte zum Fenster. Sachte schob sie den Vorhang zur Seite, nur ein Stück, und blickte hinaus auf den Vorplatz des Sankt-Jakobus-Stifts. Sie hatte sich nicht getäuscht: Es war das Wiehern eines Pferdes, das sie gehört hatte! Hinter das Tier war ein Wagen gespannt, aschfahl im Licht des Mondes, keine Kutsche, eher ein Karren, auf dessen Ladefläche dunkelbraune Wäschesäcke gestapelt waren. Aber wer, um Himmels willen, belud mitten in der Nacht einen Karren mit Wäsche?
    Einen Moment lang erwog sie, Cosima zu wecken. Sie selbst war hellwach und würde ohnehin so schnell nicht wieder einschlafen können; also konnten sie auch gleich versuchen, herauszufinden, wem der Karren gehörte – und vor allem, was er um diese Uhrzeit hier verloren hatte! Und, dachte sie, wer weiß, ob es nicht eine Möglichkeit gab …, aber nein, nicht so vorschnell. Sie hatte schon die Hand nach der Schulter ihrer Freundin ausgestreckt, als sie sich eines Besseren besann. Allein würde sie unauffälliger sein. So ließ sie das Mädchen schlafen, schlüpfte in aller Eile in Kleid und Schuhe und warf sich nach kurzem Zögern Cosimas schwarzes Cape über. Ein unmodernes, nicht mal besonders kleidsames Stück, aber bei Nacht eine gute Tarnung.
    Sekunden später war sie zur Tür hinaus und schlich über den Flur. Zwei Zimmer weiter hörte sie Rascheln und leises Flüstern. Auch andere waren von den Geräuschen erwacht. Sie wartete einen Moment, ob noch jemand auf den Gang treten würde, lief aber weiter, als alle Türen geschlossen blieben. Die anderen maßen den Lauten offenbar keine Bedeutung zu oder wagten nicht, gegen die Regeln der Direktorin zu verstoßen. Natürlich war es verboten, nachts die Zimmer zu verlassen. Für ganz dringende Bedürfnisse stand unter jedem Bett ein Nachttopf, wie im tiefsten Mittelalter.
    Ein weiteres Wiehern auf dem Vorplatz ließ Aura zusammenfahren. Sie sprang zum nächsten Fenster und traute ihren Augen nicht – der Pferdewagen war verschwunden. Enttäuscht suchte sie mit ihren Blicken die düstere Umgebung ab, doch da war nichts. Keine Spur mehr von dem Karren oder seinem Kutscher.
    Trotzdem gab sie nicht auf. Ihre Neugier war zu groß. Sie schlich die breite Haupttreppe hinunter, bis sie einen langen Flur im Erdgeschoß erreichte. An seinem Ende lag die Eingangshalle, von der aus man in die Arbeitsräume der Direktorin unter dem Innenhof gelangte.
    Aura huschte den Gang hinab bis zur Tür der Halle. Dort horchte sie aufmerksam, konnte aber durch das dicke Holz nichts hören. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter und schaute durch den schmalen Spalt. Die Eingangshalle war leer, aber aus den Gewölben von Madame de Dion erklang gedämpftes Flüstern, ein weit entfernter Wortwechsel. Durch die Fenster fiel kein Licht.
    Sie zögerte eine ganze Weile, ehe sie sich ein Herz faßte und durch den Türspalt in die Halle schlüpfte. Im Laufen zog sie das Cape enger, damit es ihr weißes Kleid besser verdeckte. Außerdem fror sie erbärmlich in den ungeheizten Gängen des Gemäuers, und ihre Aufregung jagte ihr einen Schauder nach dem anderen über den Rücken.
    Lautlos erreichte sie den oberen Absatz der Treppe. Die Stufen waren gut zehn Meter breit, und die winzigen Notlampen rechts und links an den Wänden vermochten nur den Rand der Treppe zu erhellen. Ihr mittleres Drittel lag in völliger Dunkelheit. Dort hätte ebenso ein bodenloser Abgrund gähnen können, es hätte kaum einen Unterschied gemacht.
    Aura schlich an der Wand entlang die Stufen hinunter. Es war den Schülerinnen verboten, die Arbeitsräume der Direktorin zu

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