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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Einen Moment lang überkam sie Cosima gegenüber ein schlechtes Gewissen, nicht nur wegen des Capes, sondern vor allem, weil sie sie allein zurückließ. Aber, so besänftigte sie ihre Skrupel, wahrscheinlich hatte niemand hier einen so guten Grund wie sie, nach Hause zurückzukehren.
    Sie stieg über den Rand des Karrens, schob einen der Wäschesäcke zur Seite und nahm zusammengekauert seinen Platz ein. Im Dunkeln hatte das Cape fast die gleiche Farbe wie die Säcke. Vorsichtig schmiegte sie sich tiefer zwischen die weichen Bündel, zog sich zusammen wie ein Ungeborenes und zerrte zwei Säcke über sich. In der Finsternis würde der Unterschied hoffentlich niemandem auffallen.
    Sie hörte gedämpftes Flüstern vom Hintereingang, dann wurde die Tür geschlossen. Schritte schlurften durch das Gras auf den Karren zu. Aura hatte ihre Sicht mit Säcken verbaut, mußte ganz auf ihr Gehör vertrauen. Die Angst saß wie ein scharfkantiger Eiskristall in ihrer Kehle, und ihr war, als würde er ihr beim Luftholen den Hals aufreißen. Sie wagte nicht zu atmen, sogar das Denken fiel ihr mit einemmal schwer. Alles, was sie spürte, war Furcht. Furcht, die allmählich in Panik umschlug.
    Der Karren wippte vernehmlich, als die Gestalt sich auf den Kutschbock schwang und dem Pferd mit den Zügeln auf den Rücken klatschte. Ein leises Wiehern, dann setzte sich das Gefährt in Bewegung. Aura konnte noch immer kaum glauben, was sie hier tat. Sie floh, sie war drauf und dran, dem Internat und seiner furchtbaren Direktorin zu entkommen!
    Sie wartete darauf, daß die Räder des Karrens über den Hauptweg aus Baumstämmen ratterten, doch das Geräusch blieb aus. Natürlich, davon würde das ganze Internat aufwachen! Das Gefährt nahm einen anderen Weg, wahrscheinlich quer durch den Park.
    Schließlich konnte sie der Versuchung, einen Blick nach draußen zu werfen, nicht länger widerstehen. Langsam zog sie ihre rechte Hand unter dem Körper hervor und schuf eine winzige Öffnung zwischen den beiden Säcken, die ihr Gesicht verdeckten. Doch alles, was sie erkennen konnte, waren der hölzerne Rand der Ladefläche und die vagen Schemen von Bäumen im Mondschein.
    Nach kurzer Zeit hielt der Karren abermals an. Der Kutscher flüsterte etwas mit zischelnder Stimme, worauf ein anderer Antwort gab. Kein Zweifel, die zweite Stimme gehörte Marek, dem Stiftsdiener. Augenblicke später ertönte ein Quietschen, als das Haupttor des Parks aufgezogen wurde. Der Karren schaukelte hindurch. Im Vorbeifahren blickte Aura in Mareks eingefallenes Gesicht, und einen Herzschlag lang überkam sie die Gewißheit, er starre geradewegs zurück. Starre genau in ihre Augen! Dann aber waren sie vorbei, ohne daß der Alte Alarm schlug. Das Quietschen ertönte noch einmal, als sich hinter dem Karren das Tor schloß.
    Geschafft! Dennoch war ihr nicht nach Jubeln zumute. Nach wie vor quälte sie die Angst vor Entdeckung, auch wenn sie das Gelände des Sankt-Jakobus-Stifts endlich verlassen hatten.
    Die Fahrt von der Stadt hier herauf hatte sie einen halben Tag gekostet, und damals war sie mit einem Zweispänner gefahren. Aura stellte sich wohl oder übel darauf ein, den Rest der Nacht zwischen den muffigen Säcken zu verbringen. Sie wünschte sich, die Stunden einfach verschlafen zu können, doch zugleich wußte sie, daß Schlaf jetzt das letzte war, was sie sich leisten konnte. Sie würde wach bleiben und auf der Hut sein.
    Trotzdem überkam sie nach einer Weile bleierne Müdigkeit. Sie hatte Mühe, die Augen offenzuhalten, und schließlich sagte sie sich, daß es ohnehin nichts zu sehen gab außer Tannen und Wiesen unter dem eisigen Mantel des Nachtlichts. Langsam senkte sie die Lider. Nur ein wenig ausruhen. Nur ein wenig Entspannung.
    ***
    Ein besonders tiefes Schlagloch weckte sie, und sofort fiel die Panik über sie her wie ein Greifvogel über seine Beute.
    Wie lange hatte sie geschlafen? Minuten? Stunden? Ihr erster Impuls war, sich aufzurichten und umzuschauen, doch ihre Instinkte warnten sie im letzten Augenblick. Eingerollt blieb sie liegen, blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und versuchte verzweifelt, am Wegrand irgend etwas zu erkennen. Wie weit war es noch bis Zürich? Näherten sie sich schon der Stadt? Waren sie wenigstens bereits im Tal?
    Bei diesem letzten Gedanken fiel ihr etwas auf, und die Erkenntnis überkam sie mit eisigem Entsetzen.
    Der Karren fuhr bergauf!
    Ja, tatsächlich, der Weg führte nach oben. Höher ins Gebirge!
    Aber dort oben

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