Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
lassen, reagierte er amüsiert. Natürlich komme das überhaupt nicht in Frage, erklärte er gewichtig, denn sie unterstehe als Schülerin des Stifts allein den Entscheidungen von Madame de Dion, und jenen wolle er sich nicht anmaßen vorzugreifen. Als Aura jedoch immer verzweifelter wurde, gestand er ihr zu, den Tag in der Gendarmeriestation zu verbringen und abzuwarten, was die Suche im Gebirge ergeben würde.
So saß Aura vom frühen Morgen an bis spät in die Nacht auf einer unbequemen Holzbank, ignorierte die Zeitschriften, die ein Polizist ihr brachte, aß aber heißhungrig alle Früchte und Brötchen, die einige Beamte ihr aus ihren Brotbüchsen anboten.
Es war gegen halb zwölf, als der Suchtrupp zurückkehrte, drei Männer mit langen Gesichtern, völlig erschöpft und mit gehörigem Groll auf »das kleine Miststück«, das ihnen solch einen Bären aufgebunden hatte. Ja, die Hütte habe man tatsächlich gefunden, sie stehe offenbar seit Jahren leer. Der Kamin sei eiskalt gewesen, von angeblichen Toten habe man nichts bemerkt. Weder ein alter Mann noch ein junges Mädchen seien in der Umgebung gefunden worden. Es habe ein paar Spuren von Pferdehufen und auch von Karrenrädern gegeben, doch das sei nicht weiter ungewöhnlich, da gelegentlich Bauern ihre Herden auf die umliegenden Almwiesen trieben und ein paar Stunden, vielleicht auch eine Nacht in der Hütte verbrachten.
Der Mann, der Aura am Morgen verhört hatte, wurde aus seinem Feierabend herbeigerufen, er tobte gehörig durch die Polizeiwache, ehe er Aura von zweien seiner Leute in eine Kutsche setzen und noch in derselben Nacht zurück zum Stift bringen ließ. Weder Schreien noch Heulen, kein Bitten und kein Drohen half, den erzürnten Polizisten umzustimmen. Ein griesgrämiger Beamter, der zu ihrer Bewachung während der Fahrt abgestellt wurde, drohte, ihr Handschellen anzulegen, wenn sie sich nicht benähme wie ein zivilisierter Mensch. Schließlich, nach drei erfolglosen Fluchtversuchen, blieb Aura keine andere Wahl, als sich in ihr Schicksal zu fügen.
Die Kutsche erreichte das Internat gegen halb sechs am Morgen, anderthalb Tage nach Auras nächtlicher Flucht. Fräulein Braun gab sich ganz krank vor Sorge und Enttäuschung über den Vorfall und versicherte dem Polizisten, man wolle ein ausführliches Gespräch mit Aura über die Ereignisse führen. Madame de Dion dagegen zeigte sich erst, nachdem die Kutsche wieder fort war. Sie starrte Aura reglos an, ließ alle Anschuldigungen und Beschimpfungen mit versteinerter Miene über sich ergehen, und ordnete dann mit knappen Worten an, Aura in ihrem Zimmer einzusperren.
Zwei Lehrerinnen und der alte Marek waren nötig, den Befehl in die Tat umzusetzen. Sie scherten sich nicht um Auras Geschrei, ebensowenig um ihr Hämmern an der verschlossenen Tür. Cosimas Sachen waren verschwunden, ihr Bettzeug abgezogen; die Direktorin hatte die junge Italienerin in ein anderes Zimmer verlegen lassen.
Es dauerte Stunden, ehe man sich erneut um Aura kümmerte. Marek und eine der Köchinnen hielten sie fest, während Fräulein Braun als letzte ins Zimmer trat und ein süßlich riechendes Tuch hinter ihrem Rücken hervorzog. Strampeln und Brüllen war zwecklos. Die Lehrerin preßte den chloroformgetränkten Stoff auf Auras Gesicht, und danach vergingen nur noch Augenblicke, ehe Aura für lange Zeit das Bewußtsein verlor.
Erst war es nur ein Kribbeln an ihrem rechten Unterschenkel, kaum stärker als ein Lufthauch. Doch als das Gefühl langsam an ihrem Bein emporkroch, da wußte sie, daß es keine Zugluft sein konnte.
Aura wollte aufstehen, aber etwas fesselte sie ans Bett. Sie lag auf dem Rücken, und die Matratze unter ihr war ebenso nackt wie sie selbst. Das Bett war nicht bezogen, Decke und Kissen waren verschwunden. Aura fror nicht, obwohl man sie ausgezogen hatte. Ihre Beine und Arme fühlten sich sonderbar an, schwer wie Eisenblöcke.
Sie war nicht gefesselt – es war ihr eigenes Gewicht, das sie auf die Matratze drückte.
Ein Schrei stieg in ihr auf, doch er verhallte ungehört. Fast war ihr, als läge sie unter Wasser, so träge war ihr Denken, so verschwommen die Umgebung. Sie fragte sich, ob sie träumte, und einen Moment lang begriff sie, daß das tatsächlich die Lösung war: Sie war gefangen in einem Alptraum. Doch einen Augenblick später schwand diese Gewißheit wieder, und die alte Angst kehrte zurück. Und mit ihr der Gedanke an die Wespen.
Sie war jetzt sicher, daß es mehrere waren, auch
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