Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
den zuckenden Schlund. Zugleich fanden die anderen den Eingang zu Auras Unterleib.
Dann waren sie überall, erstickten sie mit ihrer wimmelnden Fülle. Und wie auf ein geheimes Kommando senkten alle im selben Moment ihre Stacheln in feuchtes fieberndes Fleisch.
Die Umgebung setzte sich neu zusammen, wie die bunten Kristalle in den Guckrohren, die Aura als Kind so gemocht hatte. Etwas entstand, eine Form, ein Bild. Ein Gesicht.
Augen, die leuchteten, obwohl die Brauen vor Sorge aneinanderstießen. Eine Haut, ebenmäßig und glatt, unter denen sich feingeschnittene Wangenknochen erhoben. Grübchen an den Mundwinkeln, obwohl der Mann nicht lächelte. Und immer wenn Aura glaubte, einen Fehler, einen Makel entdeckt zu haben, etwas, das nicht perfekt war, dann schien er unter ihrem Blick zu verschwimmen, als forme er sich allein nach ihren Idealen neu.
Hände packten sie an den Schultern, schüttelten sie hastig auf und ab. Ihre Verträumtheit schwand dahin, und etwas, das einem Sinn für die Wirklichkeit zumindest nahekam, brach sich Bahn. Warum konnte sie nicht einfach nur daliegen, sich in der Anmut dieser wunderbaren Züge verlieren?
»Aura!«
Die Stimme erfüllte ihren Kopf. Sie erkannte ihren Namen erst mit einigen Herzschlägen Verspätung. Dann aber wurde ihr bewußt, daß der Mann in einem seltsamen Tonfall sprach. Nicht sanft, nicht freundlich, eher ungeduldig, dabei flüsternd. Gehetzt.
»Was … ist?« stammelte sie verstört.
Im selben Augenblick erkannte sie ihn wieder. Bevor sie noch aufschreien konnte, legte sich seine Hand auf ihren Mund und unterdrückte jeden Laut.
»Aura«, flüsterte er noch einmal, und jetzt klang es fast beschwörend, »du darfst nicht schreien. Du darfst überhaupt nichts sagen. Sie können jeden Moment bemerken, daß ich hier bin. Sie haben dir irgendein Rauschmittel gegeben, irgendwas, das dich ruhigstellt. Aber du mußt dich jetzt zusammennehmen!«
Sie war nackt, soviel erkannte sie selbst durch die Wogen ihrer Panik, und unter ihr lag eine graue Matratze. Waren die Wespen jetzt in ihrem Körper? Konnte sie sie deshalb nicht mehr sehen?
Aber, nein, nur ein Traum. Eine Halluzination!
»Ich nehme jetzt die Hand von deinem Mund«, wisperte der Mann. »Du wirst nicht schreien, hast du verstanden?«
Sie nickte ruckartig, nicht sicher, ob sie sich an das Versprechen halten würde. Der Mann nahm die Hand fort, und schlagartig konnte sie wieder durchatmen. Zwei, drei Atemzüge lang starrte sie ihn nur an, aus geweiteten Augen, während sein Gesicht ihr nur noch schöner, noch makelloser erschien. Und das trotz allem, was er ihr angetan hatte – nein, nicht ihr selbst! Ihrem Vater. Aber konnte sie dessen denn sicher sein? In den vergangenen vier Monaten hatte sie nichts von zu Hause gehört, abgesehen von ein paar kurzen Briefen aus Sylvettes kindlicher Feder. Keine Nachricht von Nestors Tod. Erst recht keine von einem Mord.
»Wir haben keine Zeit für irgendwelche Erklärungen«, flüsterte Gillian eindringlich. Obwohl er selbst sie angewiesen hatte zu schweigen, schien er nun ein wenig verwundert, daß sie sich tatsächlich daran hielt. Kein Schrei, kein Hilferuf. Ein Funke von Bewunderung stahl sich in seinen Blick. »Du bist tapfer, Aura. Aber du wirst noch sehr viel tapferer sein müssen, wenn wir ohne Aufsehen hier rauskommen wollen.«
Erinnerungen überfluteten ihr Hirn. Das Internat. Die Direktorin. Der alte Mann in der Berghütte. Das ermordete Mädchen. Und, schließlich, ihre Gefangennahme.
»Hier, zieh das an!« Gillian warf ein Knäuel aus Kleidungsstücken auf ihren bloßen Bauch. »Beeil dich! Die Frau, die mir verraten hat, wo ich dich finde, kann jeden Moment zu sich kommen. Ich wußte nicht, daß es so lange dauern würde, dich wachzubekommen.«
»Sind Sie gekommen, um mich umzubringen?« fragte sie leise, während sie sich wie in Trance die Kleider überzog. Es waren dieselben, die sie bei ihrer Flucht aus dem Stift getragen hatte; sogar Cosimas Cape war dabei.
»Natürlich«, gab er lakonisch zurück. Er stand an der geschlossenen Tür und horchte hinaus auf den Gang. »Deshalb all dieser Aufwand. Meinst du nicht, ich hätte dich auch nackt töten können?«
Hitze stieg in ihr Gesicht, und das verstörte sie noch mehr. Etwas an ihrer eigenen Reaktion war falsch. Sie hätte ihn fürchten müssen, ganz gleich, wie er sich ihr gegenüber verhielt. Er hatte sie damals durch den Zug gejagt, und er hatte den Auftrag gehabt, sie und ihren Vater zu
Weitere Kostenlose Bücher