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Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin

Titel: Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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töten.
    Aber er hat es nicht getan, erinnerte sie eine Stimme in ihrem Inneren. Er hat dich laufenlassen. Und er hat dir den Brief zugesteckt.
    Was für eine absurde Art von Meuchelmörder war dieser Gillian? Sie beschloß, ihm wenigstens für den Augenblick zu trauen. Als hätte sie überhaupt eine Wahl.
    Er zog die Tür einen Spaltbreit auf und spähte hinaus. Aura sah, daß das Schloß zerbrochen war. »Komm«, zischte er ihr zu, während sie noch versuchte, mit Fingern, die ihr nicht gehorchten, die Schnürsenkel zuzubinden.
    Schließlich aber war sie hinter ihm, als er vorsichtig auf den Korridor trat. Jedes Geräusch, außer seiner Stimme, drang wie durch Watte an ihr Ohr. Ihr war schwindelig, und in ihrem Bauch rumorten Übelkeit und Hunger. Aber wahrscheinlich mußte sie froh sein, daß die Nachwirkungen des Gifts sie nicht für immer zur lallenden Irren machten.
    In ihrem Zimmer – ihrem Gefängnis! – waren die Vorhänge zugezogen gewesen, aber jetzt sah sie, daß draußen vor den Korridorfenstern Dunkelheit herrschte. Unwillkürlich fragte sie sich, wie lange sie ohne Bewußtsein gewesen war. Ihrem Gefühl nach hätte es ebensogut ein Tag wie eine Woche sein können.
    Gillian lief leichtfüßig voran und zog sie an der Hand hinter sich her. Seine Sohlen auf den Steinfliesen verursachten nicht das geringste Geräusch, doch ihre eigenen Schritte kamen ihr vor wie Paukenschläge. Die Gaslampen an den Wänden flackerten trübe, und aus den anliegenden Zimmern drang kein Laut. Es mußte bereits tiefste Nacht sein.
    Sie erreichten die Tür zur Eingangshalle. Gillian schlüpfte als erster durch den Spalt, Aura stolperte mit halbbetäubten Sinnen hinterher. Niemand hielt sie auf, als sie die Halle durchquerten, vorbei an der Treppe zu den Kellergemächern der Direktorin. Kalte Nachtluft schlug ihnen entgegen, als Gillian das Haupttor öffnete und Aura ins Freie zog.
    Zwischen den Säulen des überdachten Eingangs lag ein schwarzer Hund, reglos, mit verdrehtem Hals.
    »Warst du das?« fragte sie leise. »Du«, »Sie«, ganz egal – Förmlichkeiten waren zwischen ihnen längst überflüssig.
    Gillian nickte knapp, während sie den Weg durch den finsteren Park einschlugen. »Am Tor liegt noch einer.«
    »Früher gab es hier keine Hunde.« Auras Atem raste, sie war geschwächt, und die kalte Luft schien in ihren Lungen zu Eis zu gefrieren.
    »Irgendwer hat wahrscheinlich dazugelernt«, bemerkte Gillian trocken und beschleunigte seine Schritte, bis Aura kaum noch mithalten konnte.
    Die Hunde sind meine Schuld, dachte sie mit seltsamer Klarheit. Sie sollten verhindern, das sich noch einmal ein Mädchen bei Nacht in den Park verirrte.
    Es hätte Aura nicht gewundert, wenn hier im Dunkeln noch mehr vorging, das nicht für die Augen der Schülerinnen bestimmt war. Einen Moment lang durchzuckte sie die Erinnerung an Cosima, ihre Freundin, und Gewissensbisse quälten sie. Konnte Aura sie einfach zurücklassen? Doch auch diesmal hatte sie keine andere Wahl. Gillian hätte sicher wenig Verständnis gezeigt, wenn sie ihren Einwand laut ausgesprochen hätte.
    Am Gittertor des Parks lag ein zweiter Bluthund. Ein rötlicher Schaumkranz quoll über seine Lefzen.
    »Er hat dich gebissen«, stellte Aura fest. Die Nachwirkungen des Rauschs steigerten ihre Wahrnehmung von Nebensächlichkeiten. Ihr selbst schienen Beobachtungen wie diese im einen Moment ungemein wichtig, um dann im nächsten, nachdem sie sie ausgesprochen hatte, sofort aus ihrer Erinnerung zu verschwinden.
    Hand in Hand rannten sie durch das offene Tor, als hinter ihnen im Achteckturm des Jakobus-Stifts eine schrille Glocke ertönte. Auras Flucht war bemerkt worden.
    »Was werden Sie jetzt tun?« fragte sie keuchend, während Gillian sie vom Weg in den Fichtenwald zog. Ohne anzuhalten stolperten sie durchs Unterholz, immer bergab, dem Tal entgegen.
    »Ich glaube nicht, daß sie uns verfolgen.« Gillian war nicht einmal außer Atem. »Wer denn auch? Die Lehrerinnen? Oder der alte Diener?« Er mußte das Internat eine Weile lang beobachtet haben, um so gut über seine Bewohner Bescheid zu wissen.
    Zweige schlugen ihr ins Gesicht, aber sie beschwerte sich nicht. Ihr Entkommen wog den Schmerz tausendfach auf.
    »Hier draußen gibt es keinen Fernsprecher, oder?« fragte er. »Ich habe zumindest keine Masten und Kabel gesehen.«
    »Ich glaube nicht.«
    Nach endlosen Minuten, in denen Aura kaum die Zeit zum Luftholen blieb, fragte sie: »Wohin bringst du mich?« Sie hatte

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