Die Alchimistin 01 - Die Alchimistin
gelangte an eine weitere Treppe, eng, hölzern und unbeleuchtet. Keine Wendeltreppe wie die anderen, nur eine schmale, verwinkelte Stiege, die unter jedem ihrer Schritte knarrte. Auch ohne Sonne, ohne Lampen fand Aura ihren Weg. Der schmale, trübe Schimmer, der ihr durch den Türspalt am Ende der Treppe entgegenfiel, reichte aus.
Die letzte Tür, endlich. Sie stieß den Schlüssel ins Schloß, als trüge er die Schuld an all ihrem Leid. Drehte ihn um. Wollte eintreten.
Die Tür ging nicht auf. Ihr Vater mußte sie von innen verriegelt haben. Es war Jahre her, daß er das zum letzten Mal getan hatte.
»Vater!« schrie sie. Staub und Dunkelheit verschluckten den hellen Klang ihrer Stimme, machten sie spröde und dumpf.
»Vater, laß mich rein! Bitte!«
Niemand gab Antwort. Auras Hände tasteten hilflos über die Tür, preßten dagegen, fühlten das hölzerne Schnitzrelief auf der Oberfläche.
Sie rief noch einmal, zweimal, flehte ihn an, doch der Zugang zum Dachgeschoß blieb verschlossen. Ihr Vater wollte sie nicht sehen. Weigerte sich, mit ihr zu sprechen.
Niedergeschlagen sank sie auf die oberste Stufe nieder, den Rücken gegen die Tür gelehnt. Sie bebte vor Verzweiflung.
Durch das Holz ertönte der Schrei eines Pelikans.
Wien bei Einbruch der Dämmerung: eine Stadt im Zauber der Gaslaternen. Eisenbeschlagene Kutschenräder schepperten über das regennasse Pflaster. Straßenhändler priesen zum letzten Mal ihre Waren an, andere brachen bereits die Stände ab und lenkten ihre Fuhrwerke heim in die Quartiere am Stadtrand. Vereinzelte Trambahnen dröhnten zwischen den alten Häuserzeilen, ihr Gebimmel klang selbst aus der Ferne unangenehm und schrill. Kinder rannten schreiend umher und suchten in den Abfällen der Händler nach verlorengegangenen Kostbarkeiten, einem unbeschädigten Apfel oder exotischen Früchten aus Übersee. Der Regen hatte den Kohlengeruch der Kamine für eine Weile zu Boden gedrückt, doch nun stieg er abermals vom Pflaster empor.
Eine kaiserliche Kompanie marschierte im Stechschritt über die Freyung, einen der großen Plätze im Herzen der Stadt. Einst hatte man hier, im Schatten des Schottenstifts, Verräter hingerichtet, indem man sie kopfüber in wassergefüllte Fässer tauchte. Heute versammelten sich an diesem Ort die Menschen zu Volksfesten und Märkten.
Gillian, der Hermaphrodit, trat aus dem Schutz einer buntbeklebten Litfaßsäule und schaute sich zum wiederholten Male aufmerksam um. Der Platz war immer noch voller Menschen, wenngleich die meisten unterwegs in die angrenzenden Straßen waren. Das flackernde Licht der Gaslaternen stand im krassen Gegensatz zum fließenden Rot der untergehenden Sonne. Längst war sie hinter den Dächern verschwunden, doch ihr Schein ließ im Westen den Himmel erglühen. Im Osten aber rückte die Nacht heran, und mit ihr verstärkte sich Gillians Furcht.
Was er zu tun hatte, war nicht einfach. Lysander hatte ihm in seiner Botschaft klar zu verstehen gegeben, daß er Widerspruch oder gar Nichterscheinen zum vereinbarten Zeitpunkt nicht dulden würde. Gillian würde Lysander heute abend wiedersehen, ob er wollte oder nicht. Daran bestand nicht der geringste Zweifel.
Fraglich war allein, ob es Gillian nicht dennoch gelingen konnte, Lysander zu überraschen. Und sei es nur, um unter Beweis zu stellen, daß er in all den Jahren nichts verlernt hatte.
Hätte er es nicht besser gewußt, er wäre vielleicht in der Schottenkirche eingekehrt, um vor der Madonnenstatue zu beten. Die Wiener verehrten sie als wundertätig. Doch Gillian empfand für solcherlei Bräuche nur Befremden. Niemand würde ihm helfen können, wenn er Lysander gegenüberstand. Nicht einmal er selbst, und das war möglicherweise das Schlimmste: seine eigene Hilflosigkeit. Es war lange her, daß er von anderen abhängig gewesen war, gar ihren Befehlen gehorcht hatte. Aber es war auch lange her, daß er von Lysander gehört hatte. Himmel, nach all den Jahren …
Aus dem Schatten der Litfaßsäule eilte Gillian quer über die Freyung, wich knapp einem zweispännigen Fiaker aus, ohne die Flüche des Kutschers zu beachten. Die Höcker des Pflasters waren glatt vom Regen, und einmal wäre er fast ausgerutscht. Eine Schande.
Er erreichte den Eingang des Schottenstifts. Ein Benediktinermönch ließ ihn ein, als Gillian ihm ein gefälschtes Papier unter die Nase hielt. Es wies ihn als kaiserlichen Tintenlieferanten aus – was immer das bedeuten mochte. Er hatte das Dokument von einem
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