Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
ist lange her, dass ich hier gewesen bin«, sagte Konstantin, während sein fassungsloser Blick über die Hänge schweifte, »aber so hatte ich diesen Ort nicht in Erinnerung.«
»Wann ist das gewesen?«, fragte Aura. »Mitte des achtzehnten Jahrhunderts.«
»Vor hundertfünfzig Jahren?«
»Ich hab dir gesagt, dass es lange her ist.«
Sie seufzte. »Ich werde mich daran gewöhnen müssen, mit solchen Zeitspannen fertig zu werden.«
»Hundertfünfzig Jahre sind nichts im Vergleich zu dem …«
»… was uns vielleicht noch bevorsteht. Ja, ich weiß. Ich würde das ganz gerne noch eine Weile verdrängen, einverstanden?«
Er zuckte mit den Schultern.
Aura sprang vom Pferd und führte es hinter einen Fels, der den Tieren bis zum Nachmittag Schatten spenden würde. Konstantin folgte ihr.
»Wir lassen die Pferde hier«, sagte sie.
»Alle vier?« Außer ihren Reittieren führten sie noch Fuentes weißen Hengst und das Lastpferd mit sich. »Möglich, dass wir schnell von hier verschwinden müssen.«
»Ich gehe nicht, bevor ich Gian und Tess befreit habe.«
»Nein. Natürlich nicht.«
Sie band die Zügel an einem Baumstumpf fest, dessen Rinde aussah wie versteinert. »Wenn du lieber hier bleiben willst…«
Er legte einen Arm um ihre Hüfte und suchte ihren Blick.
»Glaubst du das wirklich?«
Sie lächelte, aber es war nicht ganz ehrlich. »Ich kenne dich kaum.«
»Ich bin hier, um dir zu helfen.«
»Aber warum?«
»Was soll ich denn sonst tun? Erst wollte ich dich nur kennen lernen – die Tochter des großen Nestor Nepomuk Institoris. Diese Sache in Paris, auf dem Ball – ich hab das nicht geplant.«
»Natürlich nicht.«
»Das ist die Wahrheit. Warum müsst ihr Frauen uns Männern immer unterstellen, nur wir würden es gezielt darauf anlegen?«
Lächelnd löste sie sich aus seiner Umarmung. »Macht es dir was aus, wenn wir das später diskutieren?«
»Überhaupt nicht.« Er deutete grinsend eine Verbeugung an, dann wurde er schlagartig ernst. »Wie geht’s jetzt weiter?«
Sie trat um den Fels herum und erklomm die letzten Meter der Bergkuppe, bis sie wieder hinab auf den See und die Landzunge blicken konnte. »Wir beobachten sie«, sagte sie, als er neben sie getreten war. »Und dann versuchen wir’s.«
»Dort einzudringen?« Es war eine rhetorische Frage, und er erwartete keine Antwort.
Trotzdem sagte sie: »Wir haben keine andere Wahl. Ich habe keine.«
Sie steckten alle Waffen ein, die sie tragen konnten – die Pistole, mit der sie Fuente erschossen hatte, ihren Revolver, mehrere Messer und ein Wurfanker mit Seil, den sie in der Satteltasche des Toten entdeckt hatten. Dann brachen sie auf.
Sie hatten bereits mehrere Kilometer vor der Bergkuppe die staubige Piste verlassen, die auf geradem Weg durch die Sierra ins Tal hinabführte. Die vier Pferde hatten sich mühsam durch ein Gelände kämpfen müssen, in dem sich tückisches Geröll mit glattem Fels und struppigen Wiesen abwechselte. Die traditionellen Weinanbaugebiete Aragóns reichten im Osten bis an die Ausläufer der Sierra, nicht aber so weit in die Berge hinein. Das Tal der Familie Cristóbal bildete mit seiner abgeschiedenen Lage im Herzen des Berglands eine Ausnahme und hatte seine früheren Erträge vermutlich dem See zu verdanken, mit dessen Wasser man die umliegenden Hänge bewässert hatte. Die Menschen, die einst hier gearbeitet hatten, mussten mit großem Geschick und Sachverstand vorgegangen sein, als sie in dieser Gegend ein Weingut angelegt hatten. All das hatte der Graf in seinem Wahnsinn zunichte gemacht.
Aura und Konstantin näherten sich dem Seeufer von Norden, etwa zwei Kilometer von der Stelle entfernt, an der sich die Straße den Hang hinabschlängelte. Die meiste Zeit über bewegten sie sich im Schutz der Furchen und Gräben, ein Irrgarten aus Erde und Lehm, in dem man sie vom Anwesen aus nicht sehen konnte – ein Umstand, den Cristóbal vermutlich nicht bedacht hatte, als er den Befehl gegeben hatte, die Weinberge umzugraben.
Während ihres Rittes hatte Konstantin Aura alles erzählt, was er über den Tempel der Schwarzen Isis wusste. Wenig davon ging über das hinaus, was sie von Fuente erfahren hatte. So wusste Konstantin zwar, dass sich die Anführer des Tempels all die Jahre über nach dem Alten vom Berge benannt hatten, er war aber weder dem heutigen Grafen Cristóbal je begegnet, noch damals, vor hundertfünfzig Jahren, dessen Vorfahren.
»Im Grunde genommen«, flüsterte er, während sie durch die
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