Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
ließ.
Die Krähen stimmten ein ohrenbetäubendes Kreischen an. Schrill und vielstimmig schallte es über den See und die Berge, ehe es sich schwach wie ein Flüstern in der Finsternis verlor.
»Konntest du irgendwas erkennen?«, fragte Karisma und senkte das Fernglas, mit dem sie dem Weg der beiden Kutschen gefolgt war. Jetzt waren die beiden Fuhrwerke und ihre vier Begleiter auf Pferden hinter dem Mauerring verschwunden.
Gillian schüttelte den Kopf. »Nichts.«
»Warum machen die verdammten Krähen so einen Krach?«, fragte sie gereizt.
»Sieht aus, als hätten sie was übrig für deinen Onkel.«
»Denkst du, er war in der Kutsche?«
»Wer sonst?«
Sie wurde sehr still und sagte lange Zeit nichts mehr. Dann schlitterte sie vom Rand der getrockneten Erdwalls nach unten, bis zum Boden des zwei Meter tiefen Grabens. Nachdenklich kauerte sie sich in eine Ecke, mit angezogenen Knien und zerfurchter Stirn.
Gillian schob sein eigenes Fernrohr zusammen und steckte es unter seine Kleidung. Er kletterte zu Karisma hinunter und setzte sich neben sie.
»Es ist nur schwer vorstellbar, dass hier ein Schatz versteckt ist«, sagte er.
»Ja. Ich hab das nicht gewusst, das musst du mir glauben. Das letzte Mal, als ich hier war, war ich ein kleines Kind. Damals standen die Weinberge in voller Blüte, und es gab Menschen, die sich um alles kümmerten.«
»Bist du damals im Haus gewesen?«
»Sicher. Es war immer ein wenig heruntergekommen, aber das lag daran, dass mein Onkel sein Geld vor allem in das Anwesen in Burgos und die Ländereien in der Mancha gesteckt hat. Wenigstens hat er das immer behauptet. Und dann natürlich noch in das Waisenhaus in Soria; das hat eine Menge Geld gefressen. Aber ich hab wenig von all dem mitbekommen. Die meiste Zeit war ich mit dem Kindermädchen in Burgos, und mein Onkel war kaum da.
Wenn er überhaupt einmal aufgetaucht ist, alle paar Monate für ein paar Tage, dann war das so, als käme ein entfernter Verwandter zu Besuch. Ich hätte wahrscheinlich nie wieder einen Gedanken an die-sen Ort verschwendet, wenn ich nicht das Siegel wiedererkannt hätte. Der Adler über dem Weinfass. Er war auf den Briefen, die mein Onkel mir hin und wieder von hier aus geschrieben hat. In der Mancha und wo er sich sonst herumtrieb, benutzte er meist ein anderes.« Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich mit beiden Händen durch das kurze Haar. »Das ist alles so… unwirklich. Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass mein Onkel damit zu tun hat.«
»Du hast die beiden Männer auf dem Turm gesehen«, sagte Gillian sanft. Er wusste, dass sie sich der Wahrheit stellen musste, doch es tat weh, ihr dabei zuzusehen. Sie wurde unverhofft mit einer Vergangenheit konfrontiert, von der sie sich vor langer Zeit gelöst hatte.
»Assassinen«, sagte sie. »Das traditionelle Schwarz. Die vermummten Gesichter, sogar hier draußen, wo niemand sie sehen kann.«
»Und die Krummschwerter.«
»Die Krummschwerter«, wiederholte sie gedankenverloren und blickte dabei auf ihr eigenes gerades Schwert, das in seiner Scheide neben ihr an der brüchigen Wand aus Erdreich lehnte. Plötzlich schaute sie auf und sah ihm geradewegs in die Augen.
»Wann gehen wir rein?«
»Wir könnten es heute Nacht versuchen«, sagte er. »Aber ich bin nicht sicher. Ich habe Lascaris Dokumente. Es wäre in seinem Sinne, wenn wir bei Tageslicht dorthin gingen, nicht als Einbrecher, sondern als Gleichgestellte und potenzielle Freunde.«
Sie winkte ab. »Ich kenne meinen Onkel. Mit dem Waisenhaus mag er sich den Anschein eines Wohltäters geben, aber in Wahrheit ist er kein großzügiger Mann. Das ist er nie gewesen.«
Gillian ergriff ihre Hand und streichelte ihre langen, schmalen Finger. »Du hast Lascari gesagt, dein Onkel habe dich zu uns geschickt. Das war gelogen, oder?«
»Seit wann weißt du das?« Sie klang nicht wirklich überrascht, nur müde, und da wusste Gillian, dass sie noch einen Tag länger warten mussten, ehe sie es wagen konnten, sich in dem Anwesen umzuschauen. Er hatte Karisma nie zuvor so verletzlich, so erschöpft gesehen. Und das hatte nichts mit den Strapazen der Überfahrt oder ihrem langen Ritt quer durch Spanien zu tun.
»Ich hab es nicht gewusst«, sagte er. »Aber ich hab’s mir denken können. Welcher Mann schickt seine Nichte zum Templum Novum? In ein Kloster vielleicht, wenn er sie loswerden will, wegen eines Er-bes oder sonst was – aber in einen Orden von Tempelrittern im Greisenalter? Nie und
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