Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
nimmer.«
Zum ersten Mal seit Stunden lächelte sie. »Du bist kein Greis.«
»Wie es aussieht, werde ich auch nie einer werden«, sagte er und war erstaunt, wie verbittert das klang.
»Verlockender Gedanke.« Sie beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund. Nicht lange, aber es reichte aus, um alles zu verändern.
Sie blickten sich aus nächster Nähe in die Augen, ehe plötzlich beide lachen mussten und sofort schuldbewusst wieder verstummten, aus Sorge, einer der Wachtposten auf dem Turm könnte sie hören.
»Ich habe Unterlagen über den Templum Novum in den Papieren meines Onkels gefunden, irgendwann, als er wieder mal fort war. Er hatte Bemerkungen an die Ränder gekritzelt, aus denen hervorging, dass er nicht viel davon hielt, vor allem von Lascari. Damals konnte ich das nicht recht einordnen. Ich hätte nie gedacht, dass er selbst ein Templer sein könnte. Niemals, das musst du mir glauben.«
»Und das war für dich Grund genug, ausgerechnet dorthin zu ge-hen, wo er dich am wenigsten suchen würde?«
»Nein. Ich hab sogar gehofft, dass er es erfahren würde. Er sollte sehen, dass ich mich auf die Seite derjenigen geschlagen habe, die er am meisten verachtet. Ich war noch ziemlich jung, vergiss das nicht, und ich wollte ihm weh tun, das war alles… Zumindest am An-fang.«
Er lächelte ironisch. »Und dann hat Lascaris lebensbejahende Weltanschauung dich überzeugt?«
»Nein. Das warst du.« Sie beugte sich vor und küsste ihn erneut, diesmal länger, leidenschaftlicher.
In der Ferne schrien wieder die Krähen.
Innana…
Gillian stand abrupt auf. Karisma starrte ihn mit großen Augen an. »Was…« »Hast du das gehört?« Sie brauchte einen Moment, ehe ihr klar wurde, dass er sich nicht
aus Widerwillen von ihr gelöst hatte. Auch sie richtete sich auf. »Du bist ein ungehobelter Klotz«, sagte sie, aber es klang nicht wütend. »Und falls das eine Ausrede ist, mit der du…« Er beugte sich rasch vor und gab ihr einen Kuss. »Keine Ausrede.
Jemand hat etwas gerufen.« »Ich hab nichts gehört.« Er schüttelte nur den Kopf und kletterte wieder zum Kamm des Erdwalls hinauf. Über das Wasser des Sees blickte er hinüber zum Anwesen, jetzt nur noch ein dunkler Scherenschnitt vor dem allerletzten Rot am Horizont.
Innana…
Langsam wiederholte er das Wort. Karisma war sofort bei ihm. »Spanisch klingt das nicht.« »Und wenn es ein Name ist?« »Aber ich hab nichts gehört.« Er massierte sich die Schläfen. »Als wäre es nur in meinem Kopf.
Wie ein Ruf.«
Karismas Tonfall wurde spöttisch. »Du magst vielleicht unsterblich sein, aber du bist kein Spiritist, oder? Falls doch, sollten wir diese Sache von gerade eben noch mal überdenken.«
Er sah sie an. »Das war kein Scherz, Karisma. Weder die Stimme… noch der Kuss. Oder?« »Nein«, sagte sie leise und verzog die Mundwinkel zu einem sanften Lächeln. »War es nicht.«
Ich bin Innana…
Er blickte wieder zur Landzunge hinüber. Der Turm, auf dem die beiden Templerassassinen gestanden hatten, war leer. Stattdessen bewegte sich jetzt etwas auf dem zweiten Turm. Eine schlanke Gestalt stand hinter den Zinnen, ein schwarzer Umriss, feminin, mit lan-gem, wehendem Haar.
Aura? durchfuhr es ihn unvermittelt. Sofort hatte er Karisma gegenüber ein schlechtes Gewissen. Aber es war nicht Aura. »Siehst du sie?«, fragte er. Karisma nickte. Die Frau auf dem Turm stand noch eine Weile länger da, dann tauchte ihre Silhouette hinter den Zinnen unter wie eine Handpuppe.
Gillian sah die Frau verschwinden, immer noch verwirrt und verständnislos.
Innana, dachte er benommen.
Vor zwei Stunden war die Sonne aufgegangen, und bereits jetzt war zu spüren, dass der Tag glühend heiß werden würde. Das verwüstete Land nahm im Sonnenlicht eine feurige Färbung an, die das Panorama der Hänge infernalisch leuchten ließ. Staubwirbel tanzten wie Gespenster über die Gräben und Grate, vage, formlos und so schnell, dass Aura sie meist nur aus den Augenwinkeln wahrnahm.
Mittlerweile hatte sie den ersten Schock überwunden, den ihr der Anblick des Tals bereitet hatte. Noch nie zuvor hatte sie eine so systematisch zerstörte Landschaft gesehen. Hier und da waren noch verkümmerte Weinstöcke zu erkennen, entwurzelt und zu grauen Gerippen verdorrt; sie waren das einzige Anzeichen dafür, dass auf diesen Hängen überhaupt einmal etwas gewachsen war. Selbst borstiges Gras und Unkraut beschränkten sich auf ein paar vereinzelte Büschel weiter unten am Ufer.
»Es
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