Die Alchimistin - 02 - Die Unsterbliche
Weg hinaus auf die Landzunge folgte. Der Felsstrang erhob sich aus dem Wasser wie der Kadaver einer Seeschlange, an seiner stärksten Stelle war er nicht breiter als zwanzig Meter. Auch hier, zu beiden Seiten des Weges, hatten Cristóbals Arbeiter den Boden aufgerissen, Spalten im Stein erweitert und an einigen Stellen Sprengungen vorgenommen.
Das Gebäude, das Herz des alten Weinguts, lag am Ende der Landzunge. Abgesehen von zwei Türmen mit zinnenbewehrten Kronen war das Haus ein rechteckiger Klotz, vier Stockwerke hoch, beinahe fensterlos, aber mit engen Schießscharten übersät. Die Räume im Inneren mussten sehr dunkel sein, finstere Höhlen hinter meterdickem Gestein. Das Hauptgebäude war wohl schon im Mittelalter errichtet worden. Ein paar von den Anbauten, die sich am Fuß der trutzigen Mauern aneinander kauerten, hatte man augenscheinlich später hinzugefügt.
Auf einem der beiden Türme bewegten sich Silhouetten – schmale Gestalten in schwarzer Kleidung. Tess war mittlerweile sicher, dass die seltsamen Krieger, die mit ihrer schwarzen Vermummung und den Krummschwertern aus einer anderen Zeit zu stammen schienen, nicht älter als achtzehn, neunzehn Jahre waren. Und es gehörte nicht viel dazu, eins und eins zusammenzuzählen und zu erkennen, zu welchem Zweck der Graf das Waisenhaus in Soria unterhielt. Er rekrutierte dort den Nachschub für seine Leibwache, Jungen, die bereit waren, alles für ihren reichen Gönner zu riskieren.
Je näher sie der Spitze der Landzunge kamen, desto deutlicher wurde, dass das Gebäude verwahrlost war, die Anbauten verfallen, das Dach des Haupthauses nur notdürftig ausgebessert. Falls Cristóbals Reichtum nicht nur eine geschickte Maskerade war, die er aus Eitelkeit aufrechterhielt, so investierte er ihn zweifellos anderswo, nicht hier, in dieses verwüstete Niemandsland in den Bergen. Und wer mochte ihm das verübeln?
Tess schob ihr Gesicht näher an die Gitterstäbe und blickte hinaus auf den See, im schwindenden Licht des Tages ein Spiegel aus Gold, auf dem sich in einiger Entfernung ein kleines Eiland erhob. Die Insel war klein, kleiner sogar als das Haus des Grafen, aber ebenso kantig, von der Natur zu einem groben, scharfwinkeligen Buckel behauen. Es war zu dunkel, um Details zu erkennen, doch für Tess sah es nicht so aus, als ob sich dort drüben Gebäude befänden.
Sie sank zurück auf die Bank und wartete darauf, dass die Kutsche den verfallenen Mauerring rund um das Haupthaus passierte. Eindringlinge würden diese Mauern nicht mehr abhalten, dazu hatten die heißen Winde der Sierra den Mörtel zu morsch und das Gestein zu brüchig werden lassen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, Schäden zu beheben.
Tess hatte erwartet, dass es hier nur so von Cristóbals Soldaten wimmeln würde, doch der Platz vor dem Haus war menschenleer. Ein paar Hühner und Schweine liefen träge umher. Unweit des Haupteingangs lag ein Karren mit geborstenen Achsen im Staub, die Speichen eines zerbrochene Rades dienten einer Katzenfamilie als Unterschlupf. Aus einer Tränke wuchsen anspruchslose Pflanzen, ohne dass irgendwer daran Anstoß nahm. Auf den Mauern und Dächern saßen Krähen mit staubigem Gefieder und krächzten abwechselnd hinaus ins Abenddunkel.
Rechts und links des Eingangs brannten Fackeln; Gaslicht oder gar Elektrizität gab es hier nicht. Die Kutsche mit Tess und Gian fuhr ein Stück weiter, damit das zweite Gefährt direkt vor dem Portal anhalten konnte.
Gian erwachte. »Was…«, begann er, dann erinnerte er sich und verstummte. Tess starrte ihn durchdringend an, aber er wich ihrem Blick wieder aus und rieb sich den Schlaf aus den Augen.
»Willkommen in der Unsterblichkeit«, begrüßte sie ihn eisig. Er zuckte leicht, gab aber keine Antwort.
Als Tess zur Tür sah, schaute der Graf durch das Gitter herein. Sein Blick durchbohrte sie, als wollte er mit unsichtbaren Fingern ihre geheimsten Gedanken nach außen zerren. Beschimpfungen lagen ihr auf der Zunge, aber sie wagte nicht, sie auszusprechen.
»Sehen Sie sie nicht so an«, sagte plötzlich Gian, und das Gesicht des Grafen ruckte herum, augenscheinlich überrascht.
»Sie haben bekommen, was Sie wollten«, fuhr Gian unbeeindruckt fort. »Bringen wir es endlich hinter uns.«
Cristóbal sah noch einen Augenblick länger schweigend herein, von Gian zu Tess und wieder zu Gian, dann drehte er sich um und ging.
Es dauerte weitere fünf Minuten, ehe der Kutscher das Schloss endlich aushakte und sie aussteigen
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