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Die alte Jungfer (German Edition)

Die alte Jungfer (German Edition)

Titel: Die alte Jungfer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Cormon das einzige Wesen war, das seine Blicke anhaltend auf sich zog, und daß sie vom vollen Tageslicht beschienen war, wird man da nicht diese Liebe begreiflich finden? Das so sorgfältig verborgene Gefühl wuchs von Tag zu Tag. Die Wünsche, die Leiden, die Hoffnung, die Überlegung ließen den See, der sich in Athanases Seele ausbreitete und den jede Stunde um einen Tropfen Wassers vermehrte, still und allmählich anschwellen. Je mehr der innere Kreis, den die durch die Sinne gesteigerte Phantasie beschrieb, sich erweiterte, desto unnahbarer wurde Mademoiselle Cormon, desto mehr nahm die Schüchternheit Athanases zu. Die Mutter hatte alles erraten. Als echte Frau der Provinz berechnete sie naiv im Innern alle Vorteile dieser Sache. Sie sagte sich, daß sich Mademoiselle Cormon sehr glücklich schätzen müßte, einen hochbegabten jungen Mann von dreiundzwanzig Jahren, der der Familie und dem Lande Ehre machen würde, zum Gatten zu bekommen; aber die Hindernisse, die die Armut von Athanase und das Alter Mademoiselle Cormons in den Weg legten, schienen ihr unübersteigbar: sie wußte kein anderes Mittel, sie zu überwinden, als die Geduld. Wie Du Bousquier, wie der Chevalier de Valois, hatte wie ihre Politik, sie lauerte den Umständen auf, sie wartete mit der ganzen Schlauheit, die der mütterliche Eigennutz verleiht, auf den günstigen Moment. Dem Chevalier de Valois mißtraute Madame Granson keineswegs, aber sie war der Meinung, daß Du Bousquier, obwohl er einen Korb bekommen hatte, noch Ansprüche gehend machte. Madame Granson war die geheime und sehr gewandte Feindin des alten Lieferanten und fügte ihm erhebliches Übel zu, um ihrem Sohn, dem sie übrigens noch nichts von ihren heimlichen Umtrieben gesagt hatte, zu nützen. Wer begriffe jetzt nicht, welche Bedeutung die Lüge Suzannes, wenn sie sie erst einmal Madame Granson anvertraut hatte, erlangen mußte! Welche Waffe in den Händen der Wohltätigkeitsdame, der Schatzmeisterin des Mütterfürsorgevereins! Wie sie die Neuigkeit leise herumtragen und mitleidig frömmlerisch für die keusche Suzanne Almosen sammeln würde!
    In diesem Augenblick saß Athanase nachdenklich mit aufgestützten Armen am Tisch und rührte mit dem Löffel in seiner leeren Tasse herum. Er ließ seine zerstreuten Blicke über den roten Steinfußboden, die Rohrstühle, das angestrichene Büfett, die wie ein Schachbrett gewürfelten rosa und weißen Gardinen des armseligen Zimmers schweifen, das wie eine Kneipe tapeziert und mit der Küche durch eine Glastür verbunden war. Er saß seiner Mutter gegenüber, mit dem Rücken gegen den Kamin, auf den von der Straße her das helle Tageslicht fiel, und so tauchte sein blasses, von schönen schwarzen Haaren umrahmtes Gesicht, in dem die Augen noch von den verzweifelten Gedanken des Morgens loderten, plötzlich vor Suzanne auf. Das Mädchen, das fraglos einen Instinkt für das Elend und für die Leiden des Herzens hatte, durchzuckte jener elektrisierende Funke, von dem man nicht weiß, woher er kommt, der unerklärlich ist, den starke Geister leugnen, doch dessen Berührung so viele Männer und Frauen schon in sich gespürt haben. Es ist gleichsam, als ob ein Licht die finstere Zukunft erhellte und ein Vorgefühl der reinen Freuden erwiderter Liebe und gegenseitigen Verstehens aufdämmerte. Mehr noch, es ist der starke, sichere Griff einer Meisterhand auf der Klaviatur der Sinne. Der Blick wird von einer unwiderstehlichen Macht angezogen, das Herz fühlt sich bewegt, in der Seele erklingen die Melodien des Glückes, eine Stimme ruft: Er ist's! Dann gießt oft das Schicksal eine kalte Dusche über dieses Feuer, und alles ist vorbei. Eine Flut von Gedanken strömte rasch wie der Blitz auf Suzanne ein. Ein Strahl der wahren Liebe verbrannte das Unkraut, das unter dem Hauch der Liederlichkeit eines vergnügungssüchtigen Lebens hochgeschossen war. Es wurde ihr klar, was sie an Reinheit und Würde einbüßte, indem sie so fälschlich ihre Mädchenehre brandmarkte. Was gestern noch ein lustiger Streich in ihren Augen war, wurde nun zu einem ernsten, über sie gefällten Urteil. Sie wich vor dem Gelingen zurück. Doch die Aussichtslosigkeit eines Erfolges, Athanases Armut, die unsichere Hoffnung, Reichtum zu erwerben, um dann mit vollen Händen aus Paris zurückzukehren und zu sagen: Ich liebte dich! – dies alles oder, wenn man will, ein Verhängnis wischte diese edleren Regungen bald hinweg. Die ehrgeizige Grisette bat mit schüchterner Miene

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