Die alte Villa (German Edition)
mindestens mit dem gleichen Widerwillen zu seiner Schülerin. Rebecca blickte sich verstohlen nach einer Fluchtmöglichkeit um.
Die Messe begann.
Rebecca glaubte, es nicht aushalten zu können, diese ganze lange Weihnachtsmesse hier neben diesem widerlichen Menschen zu sitzen, ihn die ganze Zeit so dicht neben sich zu spüren. Sogar Berührungen waren unvermeidlich beim ständigen Aufstehen, Knien und sich wieder Setzen.
Herr Kelbel trug heute einen langen grauen Lodenmantel. Überhaupt war alles grau an ihm, die fahle Haut ebenso wie die spärlichen Haare auf seinem Kopf. Rebecca bemerkte, wie ihre Anspannung von Minute zu Minute größer wurde.
‚Es ist ein Ros entsprungen’ wurde angestimmt und Rebecca hörte neben sich die schöne Stimme ihrer Mutter. Normalerweise sang sie selber sehr gerne und die Weihnachtslieder mochte sie besonders. Doch war ihr heute wirklich nicht nach Singen zumute, sie fürchtete vielmehr, dass sie jeden Augenblick explodieren könnte. Ihr ganzer Körper war starr und angespannt. Schnurgerade stand sie auf ihrem Platz. Das Gesangsbuch hielt sie aufgeschlagen in der Hand, ohne auch nur ein einziges Mal hineinzuschauen.
Minutenlang schwankte sie zwischen ihrem Entschluss, einfach aufzustehen und die Kirche zu verlassen und aufkommenden Zweifeln an diesem Vorhaben.
Sicher würden alle Augen auf mich gerichtet sein, wenn ich jetzt einfach so gehe.
Dieser Gedanke quälte sie. Wenn sie sich doch einfach hier herauszaubern könnte!
Besessen von dem Wunsch, das Gotteshaus zu verlassen, schloss sie die Augen und stellte sich wieder und wieder vor, wie sie jetzt einfach aufstehen und gehen würde. Einfach so.
Bitte Gott, hilf mir! flehte sie in Gedanken.
Als sie die Augen wieder aufmachte, umgab sie völlige Dunkelheit. Das Lied war zuende und in der Kirche war es mucksmäuschenstill.
Jetzt oder nie!
Sie drängte sich schnell an ihrer Mutter vorbei und hastete den langen Gang entlang dem Ausgang zu. Die Besucher der Messe stimmten ein leises Gemurmel an und einige verließen ihre Plätze und hasteten in die Sakristei. Das Alles interessierte Rebecca jedoch nicht mehr. Sie war einfach nur froh, aus der Kirche heraus gekommen zu sein. Weg von diesem Scheusal. Als sie ein Stück gelaufen war, blieb sie atemlos stehen und musste plötzlich lachen. Eine große Freude strömte durch ihren Körper und langsam löste sich ihre Anspannung. Am Horizont kündigte sich rosarot der baldige Aufgang der Sonne an.
Ach, wie ist es schön, am Leben zu sein!
Laut singend ging sie nach Hause. „Es ist ein Ros entsprungen, aus einer Wurzel zart..“
Ihr Vater wunderte sich natürlich, dass seine Tochter so schnell schon wieder nach Hause zurückkam und noch dazu allein.
„Huch, wo kommst du denn her?“
„Mir ist schlecht geworden“, sagte sie, was ja noch nicht einmal gelogen war.
„Soll ich dir beim Kochen helfen?“
„Ich könnte eine tüchtige Küchenhilfe schon gut gebrauchen.“ Heinrich Stein zwinkerte seiner Tochter gut gelaunt zu.
Eine gute Stunde später kam Elisabeth Stein nach Hause. Sie schien ziemlich wütend zu sein.
„Da hast du dir ja ein Ding erlaubt, Rebecca! Einfach heimlich aus der Kirche zu schleichen wie eine alte Sünderin. Was habe ich nur für eine Familie?“, sagte sie in einem Ton voller Selbstmitleid.
„Du bist aus der Kirche geschlichen?“, fragte der Vater belustigt. „So auf allen vieren, oder wie?“ Er unterdrückte ein Lachen, machte seine Frau aber nur noch wütender mit seinen Bemerkungen.
„Es gab einen Stromausfall und Rebecca nutzte diese Gelegenheit, um sich davonzuschleichen.“
„Das nenn’ ich Geistesgegenwärtigkeit“, sagte Heinrich Stein dazu.
„Mir war schlecht gewesen, Mama, das musst du mir glauben.“
Die Mutter schwieg immer noch beleidigt und damit war das Thema vorerst beendet.
Währenddessen grübelte Rebecca darüber nach, ob sie tatsächlich selber etwas mit diesem Stromausfall zu tun gehabt haben könnte. Im Grunde kannte sie die Antwort auf diese Frage schon von dem Moment an, als sie die Augen in der Kirche aufgemacht hatte und es um sie herum völlig dunkel gewesen war. Hatte sie nicht sehnsüchtig herbeigewünscht, die Kirche unbemerkt verlassen zu können? Sogar gebetet hatte sie, was wirklich nicht sehr häufig vorkam. Völlig unwahrscheinlich das Alles und doch irgendwie ganz logisch. Ja, alles ganz logisch.
Ihr fiel wieder ein, wie einmal der Toaster mit einem lauten Knall das Zeitige gesegnet hatte,
Weitere Kostenlose Bücher