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Die Amazonen von Vanga

Die Amazonen von Vanga

Titel: Die Amazonen von Vanga Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hubert Haensel
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inzwischen eine weite Strecke zurückgelegt hatten, schienen sie den Bergen nicht näherzukommen. Ein schmaler, unwegsamer Saumpfad führte hinab in ein weitläufiges Flußtal, an dessen Hängen wilder Wein wuchs.
    Die Schatten wurden bereits länger, als Gudun ein Tier erlegte. Schon bald drehte sie einen knusprigen Braten über dem eilig entfachten Feuer.
    Die Nacht verlief ruhig und auch der folgende Tag, in dessen Verlauf man auf die ersten von Menschenhand bearbeiteten Felder stieß. Bauern nahmen die Amazonen bei sich auf und bewirteten sie. Am anderen Morgen drängte Burra sehr früh zum Aufbruch.
    Endlich rückten die Berge näher. Nach wenigen Stunden wurden die Dächer von Mandiba sichtbar, wie die Bauern diese kleine Ansiedlung am Rand der fruchtbaren Senke nannten. Viel mehr als fünf Dutzend armseliger Hütten waren es nicht, die einigen hundert Menschen Schutz und Unterkunft gewährten. Die meisten Einwohner besaßen ein Stück Land, das sie bestellten, und schlugen sich mehr recht als schlecht durchs Leben.
    Burra fragte nach Jodrel, aber niemand kannte diesen Namen. Auch daß er vor etwa fünf Sommern in dieser Gegend gewesen sein mußte, half dem Gedächtnis der Leute nicht auf die Sprünge. Stets bestand die Antwort nur aus einem Kopfschütteln.
    »Es hat keinen Sinn«, sagte Gorma schließlich. »Dein Vater mag sich nach Norden gewandt haben oder gen Süden. Vielleicht endete seine Flucht schon auf der Hochebene, deren Schrecken wir kennengelernt haben.«
    »Er lebt noch«, erwiderte Burra. »Und ich werde ihn finden.«
    Eine innere Unrast trieb sie weiter. Erst vor einer unscheinbaren, von Pflanzen umrankten Hütte verhielt sie ihren Schritt. Die tragenden Balken waren von Würmern zerfressen und machten keinen sehr vertrauenserweckenden Eindruck. Anstelle einer Tür gab es lediglich einen dick gewebten Vorhang aus buntem Leinen.
    Burra zögerte einen Moment, bevor sie eintrat. Dumpfe, stickige Luft schlug ihr entgegen. Es roch nach allerlei fremden Kräutern. Der Raum war erfüllt von düsterem Halbdunkel, in dem der gleichmäßige Schein einer brennenden Räucherkerze beinahe störend wirkte.
    »Komm näher!«
    Die weiche, wohlklingende Stimme gehörte einer Frau unbestimmbaren Alters. Sie saß in einer Ecke des Raumes, das faltige, bleiche Gesicht der Amazone zugewandt. Ihr zahnloser Mund mit den eingefallenen Lippen, das vorstehende spitze Kinn und die kräftigen Backenknochen verliehen ihr das Aussehen eines Raubvogels.
    »Ich bin Chastra, aber in Mandiba nennt man mich nur die Seherin. Viele kamen, um von mir Rat zu erbitten. Hinter dir liegt ein weiter Weg, das fühle ich, doch es sind düstere Gedanken, die deine Stirn umwölken.«
    Mit knöcherner, zitternder Hand hieß sie Burra, sich ihr gegenüber zu setzen. Zwischen ihnen stand ein kleiner niedriger Tisch, den Blätter eines Gläsernen Baumes bedeckten.
    Als Chastras Finger die Schläfen der Amazonen berührten, schien das Weiße in ihren Augen aufzublitzen. Burra fiel auf, daß sie blind war.
    »Hundert Winter kamen und gingen«, begann die Greisin. »Aber viele Jahreszeiten sind für mich nur noch wie der Schall einer Erzählung. Seit ich mein Augenlicht verlor, vermag ich die Zukunft zu erkennen, ahne die Gründe der Menschen, die zu mir kommen und Hilfe erbitten. Ich bin einsam im Herbst meines Lebens - und ich fühle, daß auch dich Einsamkeit umfangen hält. Vieler Schicksale sind unlösbar miteinander verflochten.«
    Burra nickte. Mit wenigen Worten gab sie der Hoffnung Ausdruck, zu erfahren, welche Fährnisse ihr weiterer Weg mit sich bringe.
    Chastra tastete nach einem der gläsernen Blätter, hob es hoch vor ihre Augen und zerbrach es. Ein unwirkliches Klingen hallte durch die Hütte.
    »Du kommst vom Rand der Dämmerzone«, erkannte sie. »Dein Herz trägt den Ruf nach Rache in sich.«
    »Werde ich Jodrel finden?« platzte Burra heraus.
    Die Seherin schwieg, schien in sich zusammenzusinken.
    »Sprich, alte Frau! Es soll dein Schaden nicht sein.«
    Die Müdigkeit eines nahen Todes schien von Chastra auszugehen. Unendlich langsam bewegte sie die Lippen. Was sie sagte, war so leise, daß Burra Mühe hatte, es zu verstehen.
    »Um dich her ist Finsternis - eine tödliche Schwärze, wie ich sie niemals zuvor erblickte.«
    Die Seherin begann zu zittern. Die Hälfte des gläsernen Blattes das sie mit der Linken umkrampft hielt, entglitt ihren kraftlos werdenden Fingern und zersprang klirrend in winzige Splitter. Das Geräusch

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