Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Amazonen

Titel: Die Amazonen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hedwig Appelt
Vom Netzwerk:
Kräuter und Gewürze war eine wundervolle Melange aus orientalischen Wohlgerüchen, die Artemis auszuatmen schien.
    Die Göttin trug einen Schleier, der ein schönes Gesicht frei ließ, zu dem allerdings ein merkwürdiger Körper gehörte. Bis zur Hüfte hinunter bestand er aus Reihen von Brüsten, geschmückt mit Perlen, Diamanten, Rubinen, Saphiren und Smaragden.
    Für alle nicht Eingeweihten muss der Anblick der ephesischen Artemis äußerst verwirrend gewesen sein. Ruhig und gelassen blickte ihnen die Göttin entgegen, als sei ihr Übermaß an Weiblichkeit die Natürlichkeit selbst. Ihre Größe war so bemessen, dass sich dem Gesicht des Näherkommenden ihre Brüste entgegenreckten und ihr Parfum in seine Nase stieg. Alle Sinne mussten taumeln vor so vielen Aufforderungen zu begehren. Die Augen durften sich sattsehen, die Nase im Aroma der Lust schwelgen, dessen Süße sich auf die Zunge legte und den Geschmack auf mehr weckte. Die Göttin wehrte auch nicht den Händen, die erst zaghaft, dann druckvoll über so viele Brüste strichen und spürten, wie das harte Holz der Berührung nicht auswich, sondern den Druck erwiderte. Und lange bevor dem Besucher bewusst wurde, was mit ihm geschah, war es um ihn geschehen. Umnebelt von Verlangen ließ er den Blick wandern auf der Suche nach dem Ziel seiner Lust und fand – eine Dame ohne Unterleib. Der üppig mit Geschlechtsmerkmalen gesegnete Oberkörper stand einfach auf einer Art Säulenfuß, der zwar auch mit Reliefs und Edelsteinen verziert war, aber eben geschlechtsneutral und sich dem letzten Zugriff verschließend wie ein Kunstwerk.
    Das war Artemis, so, wie die Amazonen sie sahen und wie die Amazonen selbst jahrtausendelang von den Männern gesehen |120| und begehrt wurden. Sie war ein Selbstbildnis der jungfräulichen Frau, das offensichtlich im Einklang stand mit dem Bild, das sich die Männer von ihr machten, sonst hätten die Amazonen diese Statue nicht so geschaffen oder wenigstens heilig gehalten. Es war keine keusche Jungfräulichkeit, die Artemis und die Amazonen hier zeigten, sondern eine lustvolle, verführerische mit einer nicht zu penetrierenden Aura.
    Hartnäckig hielt sich das Gerücht, dass die Amazonen, als sie sich in einem rituellen Gewaltakt die Brust abschnitten und damit ihre Staatsgründung für alle sichtbar machten, den abgeschnittenen Teil ihrer Weiblichkeit der Artemis opferten. Deshalb sei die Artemis von Ephesos mit so vielen Brüsten behangen.
    Natürlich war sie in ihrem wundervollen Ambiente die Hauptattraktion von Ephesos. Aber die Stadt an der Mündung des Kaystros hatte noch mehr zu bieten. Sie war das Florenz der alten Welt, ein bedeutendes Handelszentrum und eine Stadt, die Künstler und Philosophen anzog. In Ephesos waren das hoch angesehene Leute, die bewundert, sogar verehrt wurden, weil die Bürger, durch den Handel reich und weltoffen geworden, sich für ihre Werke interessierten. Während Verwalter das Vermögen mehrten, hatten die Besitzer Zeit und Muße für geistige Bereicherungen. Inspirierende Thesen fanden immer ein offenes Ohr.
    Darauf hoffte einer ganz besonders, der leider völlig talentlos war. Ein junger Mann, Herostratos, lebte im Jahr 356 v. Chr. in Ephesos und war besessen von dem Gedanken, berühmt zu werden. Er wollte dazugehören zu den bewunderten Künstlern, den ehrfürchtig geachteten Philosophen, den beliebten Schauspielern und Tänzern, oder wenigstens zu den reichen, großzügigen Mäzenen der Kunst. Aber was er auch versuchte, es misslang ihm. Er hatte keine Begabung, nicht einmal die, das zu erkennen. In seinem krankhaften Ehrgeiz fasste er eines Tages den Entschluss, durch eine Wahnsinnstat seinen Name in die Geschichte eingehen zu lassen.

    |121| In der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 356 v. Chr. – es war die Nacht, in der Alexander der Große geboren wurde – legte Herostratos Feuer im Tempel von Ephesos. Es war eine heiße Sommernacht, schon seit Wochen hatte es, wie so oft in den südlichen Sommern, nicht geregnet, und das viele Holz am und im Tempel war trocken wie Zunder. Es war keine große Leistung, hier ein Feuer zu legen, das in Windeseile um sich griff. Das Holz mit seinem hohen Gehalt an ätherischen Ölen brannte, von der Meeresbrise unterstützt, in kürzester Zeit lichterloh. Und die entsetzten Einwohner, die in Scharen durch die Nacht gerannt kamen um zu retten, was zu retten war, fanden nichts mehr zum Löschen vor. Nur die Statue der Artemis blieb, wie durch ein Wunder,

Weitere Kostenlose Bücher