Die Amazonen
Kriegerinnen in den Alltag der Menschen ein.
Städte, Ort- und sogar Landschaften waren stolz, wenn sie sich in ihren Gründungssagen auf eine Amazone als Namenspatronin |117| beziehen konnten oder eine örtliche Legende mit ihnen verknüpft war. Zwischen Troja und Ephesos hatte nahezu jeder Ort an der kleinasiatischen Ägäisküste seine Amazone, deren Geschichte hier lebendig blieb. Die Bewohner empfanden es als eine Ehre, wenn ihre Stadt keine zufällige Siedlung war, sondern auserwählt und gegründet von einer göttlichen Tochter des Krieges, die unbesiegbar war, stark, frei, schön und gleichzeitig so menschlich in ihrer immer tragischen Liebe.
Am tiefsten verbunden waren die Amazonen allerdings mit der Stadt Ephesos, galten sie doch als Gründerinnen des berühmten Artemis-Tempels, der zu den Sieben Weltwundern der Antike zählte.
In der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. hatten unter dem Architekten Chersiphron aus Knossos die Bauarbeiten an dem Tempel begonnen und wurden nach dessen Tod von seinem Sohn Metagenes fortgeführt. Hundert Jahre dauerte es bis zur Vollendung dieses architektonischen Meisterstücks, das unter schwierigsten Bedingungen entstand, weil Ort und Lage des Tempels vorgegeben waren.
Seit Menschengedenken gaben die Epheser von Generation zu Generation eine Legende weiter, die besagte, dass die Amazonen auf ihren Streifzügen durch Kleinasien nach Ephesos gekommen seien und zufällig auf einem Baumstumpf, der von einer gefällten Ulme übrig geblieben war, eine kleine Statue ihrer Göttin Artemis entdeckt hätten. Sie sahen darin ein Zeichen und eine Mahnung, an dieser Stelle ihrem Kult ein Denkmal zu setzen. Dieses erste, ursprüngliche Heiligtum wurde vor unvorstellbar langer Zeit gebaut und im Laufe der Jahrhunderte immer wieder ausgebessert und vergrößert.
Unter allen Umständen sollte auch der neue Tempel an diesem heiligen Ort stehen und die Erinnerung an die ursprüngliche Kultstelle bewahren. Das war der Grund, warum er an eine Stelle gesetzt wurde, den kein Architekt der Welt unter normalen Voraussetzungen als Bauplatz akzeptiert hätte. Nahe Ephesos mündete |118| der Kaystros ins Meer, und sein Flussdelta bedeutete Sumpfgebiet. Tatsächlich stand die ganze Stadt auf feuchtem, moorigem Untergrund. Vielleicht lag das sogar in der Absicht ihrer Erbauer, die sie dadurch vor den Erdbeben schützen wollten, die in der Gegend häufig auftraten.
Um das Fundament des gigantischen Unternehmens zu sichern, wurden in die Baugrube zunächst angekohlte Eichenstämme gerammt, dann folgten abwechselnd Schichten von Holzkohle und Schaffellen, die den Baugrund stabilisieren und eventuelle Erdstöße abfedern sollten. Auf diesem Bett ruhte der Tempel: 103 Meter lang und 60 Meter breit, gestützt von 127 Säulen, die jeweils 18 Meter hoch waren. Der Tempel war nach Westen gerichtet, um die Ausrichtung des ursprünglichen Heiligtums beizubehalten. Näherte sich ein Besucher dem Bau aus dieser Richtung, muss der Anblick grandios gewesen sein: Ein Wald aus reich verzierten Säulen empfing den Reisenden und zog ihn ganz und gar in seinen Bann. Die Reliefs an den Säulenbasen und unterhalb der Kapitelle wechselten zwischen figürlichen und ornamentalen Darstellungen, die dem Betrachter das ganze Spektrum zwischen ausdrucksstarkem Naturalismus und filigranem Formenspiel boten. Diese von unten nach oben geschmückten Säulen waren und blieben eine Eigenheit des Artemisions, wie der Tempel auch genannt wird.
Die Zimmerleute bearbeiteten Zedernholz aus Kilikien für das Dach, den Dachstuhl und die Decken. Das hellgelbe, feinfaserige Holz lag wie ein sonniger Himmel auf den Säulen und erfüllte den Raum darunter mit dem Duft seines ätherischen Öls.
Noch kostbarer war das Zypressenholz für die Flügeltore. Es besaß von Natur aus einen seidigen Glanz, der an dem sorgfältig geglätteten Material besonders gut zur Wirkung kam und die Gold- und Silberbeschläge reflektierte. Ein wilder Weinstock, der speziell für diesen Zweck in Zypern gefällt und nach Ephesos verschifft wurde, rankte sich, zur Treppe verarbeitet, in die Höhe.
|119| Im Inneren des Tempels stand die über zwei Meter hohe Artemis, ebenfalls aus dem extrem dauerhaften Holz eines Weinstocks geschnitzt und mit Gold und Silber verkleidet. Um das Holz zusätzlich vor Verfall zu schützen, tröpfelten die Priester von Zeit zu Zeit durch eine kleine Öffnung etwas gewürztes Öl ins Innere der Statue. Die Komposition der verwendeten
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