Die Amazonen
Jeannine Davis-Kimball und ihr russischer Kollege nun genau inspizierten. Er war sehr oberflächlich geplündert worden, denn die beiden Archäologen stießen bald auf Gold. Dutzende von Goldperlen – waren sie Teil einer reich verzierten Rüstung? Sie fanden Broschen und Applikationen, die Überreste prunkvoller Kleidung, ein Trinkgefäß aus purem Silber und einen Spiegel als ersten Hinweis darauf, dass es sich um das Grab einer Frau handelte. Ein Ohrring erhärtete die Vermutung.
Aus der Lage des Skeletts schloss das Team, dass die Tote in Angriffshaltung bestattet wurde. Die Oberschenkelknochen waren gebogen und die Steißbeinwirbel gestaucht, was darauf hinwies, dass sie viel geritten ist – aber hatte sie auch gekämpft?
Eine neue Entdeckung schien diese Frage zu beantworten. 110 filigran gearbeitete Pfeilspitzen fanden sich unter den Grabbeigaben. Es könnte sich demnach um eine Kriegerin handeln, die einen hohen Rang innegehabt haben musste, vielleicht sogar eine |176| Stammesfürstin gewesen war. Das Grab war für sie allein angelegt worden, und diese Einzelstellung konnten nur hoch stehende Persönlichkeiten für sich beanspruchen.
Auch in anderen Kurganen war man schon auf ähnliche Pfeilspitzen gestoßen und hatte sie aufgrund dieses Waffenfundes automatisch Männern zugeordnet. Das könnte sich nachträglich als Irrtum herausstellen, wenn diese Tote definitiv eine Frau war.
Jeannine Davis-Kimball brauchte Gewissheit. Der DNA-Spezialist Joachim Burger sollte die Frage, ob es sich um einen Krieger oder eine Kriegerin handelte, eindeutig klären. Tief im Knocheninneren fand er tatsächlich noch organisches Material – nach 2 500 Jahren. Seine Analyse brachte die gewünschte Eindeutigkeit: Die Tote war eine Frau.
Man hatte eine berittene Kriegerin gefunden aus der Zeit, in der die Geschichten von den Amazonen kursierten. Wie mochte sie ausgesehen haben? In den Quellen wird einmal erwähnt, dass die Amazonen groß und blond gewesen seien. Passte die Kriegerin in dieses Bild?
Jetzt war das Bundeskriminalamt gefragt, das aus dem zur Verfügung stehenden Material das Gesicht einer jungen Frau mit europäischen Zügen rekonstruierte.
Mit diesem „Fahndungsfoto“ in der Hand verließ Jeannine Davis-Kimball die Ausgrabungsstelle und begab sich auf eine Abenteuerreise, die sie bis ins chinesische Grenzgebiet führen sollte.
Der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen war: Sie hatte den Beweis, dass es Kriegerinnen der Steppe gegeben hatte. „Ihre“ Tote hatte gelebt, Verwandte gehabt, vielleicht selbst Kinder geboren, die sich wahrscheinlich auch fortgepflanzt hatten. Die genealogische Linie könnte sich über Jahrhunderte, ja über Jahrtausende hinweg erhalten haben. Was wäre, wenn sich Nachfahren der Amazonen finden ließen?
Um noch mehr über die Lebensweise der Steppenkriegerinnen zu erfahren, reiste sie zunächst nach Ulgii, die Hauptstadt einer mongolischen Provinz, wo ihre Tradition noch lebendig war. Die |177| Frauen hier galten als exzellente Bogenschützinnen, was sie in sportlichen Wettkämpfen immer wieder unter Beweis stellten.
In diesem Ort gab es auch eine Art Heimatmuseum, wo Trachten, Accessoires und Fundstücke aus der Region ausgestellt waren. Für Davis-Kimball wurde dieses Museum zu einem Ort der Offenbarung. Hier sah sie zum ersten Mal die typischen, spitz zulaufenden Hüte der Steppenkriegerinnen, verziert mit ähnlichen Goldperlen, wie sie sie im Kurgan gefunden hatte. Sie gehörten also vielleicht nicht wie vermutet zur Rüstung, sondern waren Teil des Kopfschmucks. Ähnliche Muscheln wie die, die sie in den Gräbern der Steppe gefunden hatte, verzierten hier die Gürtel.
Es waren Details, aber in der Summe bestätigten sie Davis-Kimballs Annahme, dass es ranghohe Steppenkriegerinnen gegeben hatte, die über Reichtümer verfügten und sie zu Repräsentationszwecken einsetzten.
Auf ihren Spuren reiste sie weiter zu einem Nomadenvolk, das in den Bergen an der Grenze zu China lebte. Bei ihnen, erzählte man, würde ab und zu ein Kind geboren, das anders aussehe als die anderen.
Das Kind, das die Archäologin hier fand, war ein neun Jahre altes Mädchen mit haselnussbraunen Augen, blondem Haar und Gesichtszügen, in denen sich sowohl mongolische als auch europäische Einflüsse spiegelten. War sie eine Nachfahrin der Steppenkriegerinnen von vor 2 500 Jahren?
Wieder war der Molekular-Anthropologe gefragt. Er sollte herausfinden, ob die DNA, die er aus den Knochenfunden im Kurgan
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