Die Ameisen
Schritt zu wagen. Wenn ich es nicht tue, werde ich nie mehr in den Spiegel schauen können, ich müßte mir immer sagen, daß ich ein Feigling bin.
Außerdem, erinnere dich, du selbst hast mich gedrängt, da runterzugehen.«
Er zog sein blutbeflecktes Hemd aus.
»Na schön, dann komme ich aber mit!« erklärte sie und packte die Taschenlampe.
»Nein, du bleibst hier!«
Er hatte ihre Handgelenke gepackt.
»Laß mich los, was ist in dich gefahren?«
»Entschuldige, aber du mußt einsehen, dieser Keller geht nur mich etwas an. Das ist mein Sprung ins kalte Wasser, das ist mein Weg. Und niemand darf sich da einmischen, verstehst du?«
Hinter ihnen weinte Nicolas immer noch über Ouarzazates Überresten. Jonathan ließ Lucies Handgelenke los und ging zu seinem Sohn.
»Na komm, mein Junge, ist ja gut!«
»Ich hab’s satt. Ouarzi ist tot, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euch zu streiten.«
Jonathan versuchte ihn abzulenken. Er nahm eine Schachtel Streichhölzer, entnahm ihr sechs Stück und legte sie auf den Tisch.
»Da, guck mal, ich zeig dir ein Rätsel. Man kann mit diesen sechs Streichhölzern vier gleichseitige Dreiecke bilden. Denk gut nach, dann bekommst du’s raus.«
Der Junge trocknete überrascht seine Tränen und zog die Nase hoch. Dann fing er an, die Streichhölzer auf unterschiedliche Weise anzuordnen.
»Ich geb dir noch einen Tip. Um die Lösung zu finden, mußt du anders denken. Wenn man überlegt, wie man es gewohnt ist, kommt man nicht darauf.«
Nicolas schaffte es, drei Dreiecke zu bilden. Keine vier. Er blickte auf, blinzelte mit seinen großen blauen Augen. »Hast du die Lösung gefunden, Papa?«
»Nein, noch nicht, aber ich spüre, daß ich nicht mehr lange brauche.«
Jonathan hatte seinen Sohn vorläufig beruhigt, nicht jedoch seine Frau. Lucie warf ihm wütende Blicke zu. Und am Abend hatten sie einen ziemlich heftigen Streit. Es nutzte nichts, Jonathan wollte nichts über diesen Keller und sein Geheimnis sagen.
Am nächsten Morgen stand er früh auf und brachte den ganzen Vormittag damit zu, eine Eisentür mit einem schweren Vorhängeschloß am Eingang des Kellers anzubringen. Den einzigen Schlüssel hängte er um seinen Hals.
Die Rettung kommt unerwartet in Form eines Erdbebens.
Als erstes erhalten die Wände einen schweren seitlichen Schlag. Sand beginnt, einem Wasserfall gleich, von den Decken zu rieseln. Ein zweiter Stoß folgt fast unmittelbar danach, dann ein dritter, ein vierter … Die dumpfen Erschütterungen folgen immer schneller aufeinander, kommen dem ungewöhnlichen Trio immer näher. Das ist ein gewaltiges Grollen, das nicht aufhört und alles erzittern läßt.
Von diesem Vibrieren wiederbelebt, beschleunigt das junge Männchen wieder seinen Herzschlag, kneift zweimal mit seinen Mandibeln zu, was seine Peiniger überrascht, und verdrückt sich in einem beschädigten Tunnel. Es bewegt seine noch unentwickelten Flügel, um seine Flucht zu beschleunigen und seine Sprünge über den Schutt zu verlängern.
Jeder neue, noch stärkere Stoß zwingt es, stehenzubleiben und, auf den Boden gepreßt, das Ende der Sandlawinen abzuwarten. Ganze Wandstücke prasseln mitten in die Gänge, Brücken, Brückenbögen, Krypten stürzen ein, reißen Millionen benommener Gestalten mit. Die Gerüche höchsten Alarms steigen auf und verbreiten sich. In der ersten Phase erfassen diese stimulierenden Pheromone die oberen Gänge. Wer diesen Duft wahrnimmt, beginnt augenblicklich zu zittern, kreuz und quer zu laufen und noch aufreizendere Pheromone zu produzieren. So daß die Aufregung nach dem Schneeballprinzip wächst.
Die Alarmwolke verbreitet sich wie Nebel, kriechti n sämtliche Äderchen des »schmerzenden« Bereichs, dringt in die Hauptschlagadern. Das fremde Element, das den Körper des Volkes infiltriert hat, bewirkt, was das junge Männchen vergeblich auszulösen versucht hat: Schmerztoxine.
Schlagartig beginnt das von den Massen von Belokanerinnen gebildete schwarze Blut schneller zu pulsieren. Die in der Nähe der geschädigten Zone liegenden Eier werden fortgeschafft.
Die Soldatinnen schließen sich zu Kampfeinheiten zusammen.
Als sich das Männchen Nr. 327 auf einer breiten, vom Sand und der Menge halb verstopften Kreuzung befindet, nehmen die Stöße ein Ende. Es folgt eine beängstigende Stille. Jeder bleibt reglos stehen, fürchtet den weiteren Gang der Ereignisse.
Die aufgerichteten Antennen zucken. Warten.
Plötzlich wird das quälende Pochen von
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