Die Amerikanerin
entgegen.
»Entschuldigen Sie meine Manieren – ich habe mich Ihnen ja noch gar nicht vorgestellt! Mein Name ist Georgina Schatzmann, aber Sie dürfen mich ruhig Gorgi nennen – das tun nämlich alle. Ich bin auf dem Weg zur Hochzeit meiner Schwester, und wenn meine bisherigen Beobachtungen mich nicht täuschen, dann sind Sie und ich die beiden einzigen allein reisenden Damen an Bord. Da wäre es doch nett, wenn wir uns ein wenig näher kennenlernen würden, habe ich mir gedacht und mir die Augen nach Ihnen ausgeguckt.« Sie kicherte. »Aber jetzt habe ich Sie ja gefunden, nicht wahr?«
Leider!, ging es Marie durch den Kopf. Während sie noch über eine höfliche, aber bestimmte Abfuhr nachgrübelte, redete die andere unbekümmert weiter.
»Vielleicht halten Sie mich für ein wenig aufdringlich, aber ich habe so schreckliches Reisefieber, müssen Sie wissen! Die Reise, die Hochzeit, New York – ich habe das Gefühl, als müsste ich vor Aufregung platzen!«
Als Marie in das runde Gesicht ihrer Nachbarin schaute, schien ihr diese Gefahr gar nicht so abwegig: Die Augen weit aufgerissen, blinzelte Georgina Schatzmann, genannt Gorgi, sie unter flatternden Lidern an. Ihre von feinen Äderchen durchzogenen Wangen hoben und senkten sich wie ein Mahlwerk, nicht ganz weiße Zähne kauten gleichzeitig auf einer ausgeprägten Unterlippe. Alles zusammen sah fast schon tragikomisch aus.
»Ich heiße Marie Steinmann, und ich bin auch auf dem Weg zu meiner Schwester. Allerdings ist diese schon seit Ewigkeiten verheiratet«, hörte Marie sich sagen.
»Das gibt’s doch nicht! Steinmann und Schatzmann – sogar unsere Namen ähneln sich!« Gorgi schüttelte den Kopf. »Wenn das nichts zu bedeuten hat …«
Zur Freude der anderen nickte Marie heftig. Das bedeutete, dass sie ihre Englischlektüre in den Wind schreiben konnte!
In der Tat erwies sich Georgina Schatzmann fortan als so anhänglich wie ein Hündchen, das froh war, endlich ein Zuhause gefunden zu haben: Zur Essenszeit platzierte sie sich so vor Maries Kabine, dass diese nicht anders konnte, als mit ihr in den Speisesaal zu gehen. Auch zwischen den Mahlzeiten gelang es Gorgi immer wieder, Marie in einem der Aufenthaltsräume aufzuspüren. Nach dem dritten Tag gab sich Marie angesichts von so viel Beharrlichkeit geschlagen: Wenn sie die Zeit auf dem Schiff schon nicht in Ruhe verbringen konnte, dann wollte sie wenigstens das Beste aus der erzwungenen Gesellschaft machen. Und so fragte sie Gorgi, die von Beruf Lehrerin war, ob sie nicht bereit wäre, Marie Vokabeln abzufragen. Freudig stimmte diese zu.
Dank Gorgis drolliger Art, für schwierige Wörter Eselsbrücken zu bauen, machten Maries Englischstudien schon bald erstaunliche Fortschritte. Sich in einer fremden Sprache unterhalten zu müssen, andere Menschen nicht zu verstehen – davor hatte sie die meiste Angst gehabt. Doch nun sah es fast danach aus, als hätte sie sogar eine besondere Begabung für die englische Sprache. Zumindest behauptete Gorgi das nach einer Weile und schlug im selben Moment vor, zum vertraulichen »Du« überzugehen – wo sie doch nun schon auf gewisse Art Freundinnen waren.
Warum nicht, antwortete Marie schulterzuckend –schließlich war diese Anrede in Amerika ohnehin gang und gäbe!
Von da an wurden ihre Gespräche etwas vertraulicher. Als Gorgi erfuhr, dass Marie eine Glasbläserin war, die Christbaumschmuck herstellte, kannte ihre Begeisterung keine Grenzen mehr.
»Steinmann-Baumschmuck – warum bin ich nicht gleich auf diese Verbindung gekommen! Deine Glaskugeln hängen nämlich jedes Jahr an unserem Weihnachtsbaum! Ganz besonders liebe ich die kleinen silbrigen Zapfen und Nüsse, meine Mutter jedoch mag eher die großen Figuren wie die Weihnachtsmänner und Engel. Und so streiten wir jedes Mal, wo welches Teil hingehängt wird.« Sie lachte ihr herzliches Lachen, während ihre Augen noch runder wurden. »Jedes Jahr nach dem ersten Advent gehen wir bei uns in Nürnberg ins Kaufhaus am Rathaus und schauen, was es Neues an Steinmann-Schmuck gibt. Natürlich kaufen wir jedes Mal ein paar Teile! Aber sag, wie um alles in der Welt kommst du nur auf diese vielen schönen Ideen?«
Marie lächelte. »Die meisten Ideen bekomme ich einfach geschenkt«, offenbarte sie freimütig. »Ich muss nur durch den Wald laufen, einen Spaziergang entlang der Lausche machen – das ist ein kleiner Fluss bei uns zu Hause – und dabei eine besonders geformte Blüte entdecken, und schon
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