Die Amerikanerin
auch von sich behaupten könnte!
Ehe die beiden Frauen sich versahen, näherte sich die Überfahrt ihrem Ende. »Wahrscheinlich liegt die ganze Hudsonbucht im Nebel«, hatte Gorgi am Vorabend ihrer Ankunft geunkt, doch der Morgen des fünfzehnten Juni war so klar, als hätte ihn jemand mit einem weichen Tuch blank poliert. Schon vor dem Frühstück gingen sie gemeinsam an Deck, jede eine Decke gegen die Morgenkälte über die Schultern geworfen. Zu ihrem Erstaunen trafen sie dort auf eine stattliche Anzahl Passagiere – alle wollten zu den Ersten gehören, die einen Blick auf die große Stadt werfen konnten.
Marie war komisch zumute. Spontan wünschte sie sich, die Schiffsfahrt würde noch ein wenig andauern. Als die ersten dunklen Umrisse am Horizont das Ende des Ozeans ankündigten, war sie froh, Gorgi mit ihrem enthusiastischen Gesichtsausdruck neben sich zu haben.
… nur eine Frau sein, die Spaß haben will.
Konnte das genauso für sie gelten?
Auch auf dem Immigranten-Deck unter ihnen drängte sich Schulter an Schulter. Zwölf Tage lang waren die Menschen wie Vieh im Bauch des Schiffes zusammengepfercht gewesen – ohne Frischluft, ohne ausreichende Nahrung –, nun rückte ihre neue Heimat unaufhaltsam näher. Was kommen sollte, war Beginn und Ende zugleich, Abschied und Ankunft. Erwartungsvolle Anspannung vibrierte in der kalten Morgenluft.
Plötzlich kam Bewegung in die Versammelten.
»Da ist sie!« – »Da ist sie!«
»Schaut alle nach links!«
»Schnell, kommt hier herüber, sonst verpasst ihr sie!«
Aufgeregte Rufe waren zu hören, Hände fuchtelten in der Luft, Finger zeigten alle in dieselbe Richtung, als ob dort jemand stünde, den sie kannten und der sie begrüßen wollte. Binnen einer Minute drängten sich alle auf der linken Seite des Decks, so dass man das Gefühl bekommen konnte, der Schiffsleib würde sich schräg legen.
»Die Lady of Liberty! Schau, wie sie ihre goldene Fackel zum Gruß in die Höhe reckt!« Aufgeregt puffte Gorgi Marie in die Seite, ohne ihren Blick von der berühmtesten Statue der Welt zu nehmen. Ihre Umrisse glitzerten scharfkantig in der Morgenluft, und den Blick zur alten Heimat gerichtet, kündete sie verheißungsvoll von der Freiheit in der Neuen Welt.
Als von Marie keine Reaktion kam, drehte Gorgi sich zu ihr um. »Was ist, warum weinst du denn?«
Marie schüttelte den Kopf, nicht sicher, ob sie einen Ton herausbringen würde.
»Hör auf, du Heulsuse! Sonst fange ich auch noch an«, drohte Gorgi scherzhaft und knuffte Marie abermals in die Rippen. »Freu dich doch an diesem Anblick! Es kommt schließlich nicht alle Tage vor, dass man so grandios begrüßt wird!«
»Das ist es ja«, schniefte Marie. »Ich habe das Gefühl, noch nie in meinem Leben etwas so Schönes gesehen zu haben.«
Gorgi legte Marie einen Arm um die Schultern. Sie grinste spitzbübisch. »Warte ab – das ist erst der Anfang!«
3
Nur ein paar Schritte von dem Ort entfernt, wo in New York Geld gemacht und wieder verloren wurde, lag die Brooklyn Bar. Sie wurde vor allem von hemdsärmeligen Bankern und Brokern frequentiert. Manchmal lud einer von ihnen seine Sekretärin ein mitzukommen, doch alles in allem sah man nur wenig weibliche Gäste. Auf diesen Umstand bildete sich der Besitzer der Bar, Mickey Johnson, ziemlich viel ein. »Wo können Männer heutzutage noch ungestört einen über den Durst trinken? Schließlich ist kein Ort mehr vor den Frauen sicher!«, lamentierte er des Öfteren. Wenn er einen Rock durch seine schmuddelige Tür kommen sah, bedachte er dessen Trägerin in der Regel mit einem unfreundlichen Blick.
Ganz gleich, ob an einem Tag Geld gemacht oder verloren worden war – gegen Abend war Mickeys Tresen stets so voll, dass die Gläser Bier, die der Ire in Windeseile zapfte, von den Gästen weitergereicht werden mussten – das Serviermädchen wäre einfach nicht mehr durchgekommen. Und ganz gleich, ob es ein guter oder ein schlechter Tag gewesen war, bei Mickey war es stets unglaublich laut, der Alkoholkonsum beträchtlich und der Zigarettenqualm dichter als der Nebel, der allmorgendlich über der Bucht hing. Jemand, der nur zufällig hier vorbeikam und, angelockt von den vielen Besuchern, beschloss, auf ein Bier hineinzugehen, hätte nie zu unterscheiden vermocht, welche Art von Tag die New Yorker Börse gesehen hatte. Mickey jedoch brüstete sich damit, dies allein am Schweißgeruch der Männer feststellen zu können: Freudige Erregung roch anders als
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