Die Amerikanerin
immer wieder rufe ich mir unsere Zeit in New York ins Gedächtnis. Was hat er wann gesagt? Und was habe ich ihm geantwortet? Ich komme mir vor wie ein Chirurg, der mit äußerster Präzision sein Skalpell anlegt und …
Dieser Schmerz! Wanda konnte ihn kaum ertragen. Sie ließ das Buch sinken und schaute ein paar Minuten lang auf Maries schlafende Gestalt. Welche Dämonen bekämpfte sie, wenn sie so wild zuckte und stöhnte? Wanda vermochte es sich nicht vorzustellen. Keine Sekunde lang zweifelte sie am Wahrheitsgehalt von Maries Aufzeichnungen. Trotzdem gelang es ihr nicht, das, was sie las, mit den Menschen in Verbindung zu bringen, die sie kannte. Sie nahm das Buch wieder auf.
Vielleicht …, wenn ich damals hellhöriger gewesen wäre, hätte ich erkannt, dass bei Franco Licht und Schatten sehr nahe beieinanderliegen. Aber in meiner Verliebtheit habe ichnicht sehen und nicht hören wollen! Sonst hätte ich doch erkennen müssen, dass das Verhalten der italienischen Restaurantbesitzer Franco gegenüber von Angst und Verachtung geprägt war. Doch ich dumme Kuh glaubte, sie huldigten mit ihrer Unterwürfigkeit seinem Adelstitel! Und weshalb habe ich mich nie gefragt, warum er mich bei seinen Besuchen im Hafen nicht dabeihaben wollte? Wo er doch sonst auf jede Minute eifersüchtig war, die ich mit anderen Leuten verbrachte. Weitere Selbstvorwürfe folgten. Zu Wandas Fassungslosigkeit gesellten sich Wut und Trauer. Was hatte sich Marie in den Wochen ihres Eingesperrtseins nur angetan? Sie war doch nicht schuld an dem Drama! Keiner hatte Franco durchschaut, viel zu raffiniert waren er und seine Familie vorgegangen, als dass jemand irgendwelche üblen Machenschaften hinter der feinen Fassade vermutet hätte!
Als sie von Maries Fluchtversuch las, brach es ihr fast das Herz. Was für Barbaren waren der Conte und die Contessa!
… ein paar Tage lang hat sich Patrizia danach gar nicht sehen lassen. Die schreckliche Carla hat sie mir geschickt. Es ist wirklich verrückt, aber inzwischen habe ich ein richtig schlechtes Gewissen, weil ich versucht habe zu fliehen.
Die alte Hexe! Nicht genug, dass sie Marie einsperrte, sie musste auch noch psychischen Druck auf sie ausüben! Hasserfüllt schaute Wanda zur Tür. Patrizia sollte sich nur blicken lassen! Stirnrunzelnd las sie weiter.
Und wenn ich noch so schreie und tobe – Patrizia sieht in ihrem Handeln nichts Schlechtes. Sie ist der Überzeugung, einzig im Sinne der Familie zu handeln. Dafür muss ich ihrer Ansicht nach eben einige »Unannehmlichkeiten« in Kauf nehmen. Was für eine elegante Umschreibung für Kerkerhaft und Freiheitsberaubung! Una famiglia – wie oft muss ich mir das noch anhören! Trotzdem: Wenn sich mir eine Gelegenheit bietet, versuche ich es wieder. Aber nur, wenn ich das Kind dabei nicht gefährde. Patrizia mag die Familie über alles stellen –für mich ist mein Kind das Wichtigste. Sie können mir vielleicht im Augenblick die Freiheit nehmen, aber nicht die Kleine!«
Wanda lächelte traurig angesichts des nutzlosen Aufbegehrens.
Montag, den 14. Februar. Heute habe ich mich dabei ertappt, fast den ganzen Vormittag auf einen winzigen Riss in der Tapete zu starren. Ich muss aufpassen, dass ich nicht wahnsinnig werde. Wenn ich mich nur aufraffen könnte, mich an den Bolg zu setzen! Patrizia hat mir angeboten, neues Glasmaterial zu besorgen. Wahrscheinlich glaubt sie, mich dadurch ruhigstellen zu können …
»Und …? Hast du schon alles gelesen?«
Wanda zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass Marie wach geworden war.
»Nein«, presste sie hervor. »Aber was ich gelesen habe, reicht mir schon! Gut, dass du alles aufgeschrieben hast. Was glaubst du, wird die Polizei sagen, wenn ich ihnen das bringe?«
Marie schüttelte schwach den Kopf. »Nein, keine Polizei.«
»Aber warum denn nicht? Die können doch nicht Menschen umbringen und dich hier einsperren und –«
Wanda brach ab, als sie Maries kalte Hand an ihrem Arm spürte.
»Bitte nicht, ich flehe dich an! Du musst an Sylvie denken. Du musst dein Wissen in ihrem Sinne einsetzen …«
»Wie meinst du das? Wenn dies hier alles aufgeklärt wird, wäre das doch in Sylvies Sinne, oder?«, fragte Wanda stirnrunzelnd. Im nächsten Moment schlossen sich Maries Augen wieder. Ihre wachen Phasen wurden immer kürzer – diese Erkenntnis traf Wanda wie ein Schlag. Sie musste der Wahrheit ins Auge sehen, dass sie sich in Bezug auf Maries Genesung etwas vormachte.
Marie schlief. Ihr
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