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Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
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klar.
    »Hier ist etwas, was ich dir geben will, bevor sie wiederkommt. Schnell, nimm das und steck es weg.« Sie hatte einkleines, zerfleddertes Büchlein in der Hand. Ihr Blick huschte angstvoll zur Tür, als hätte sie das gesammelte Tafelsilber des Palazzos gestohlen und würde es hiermit Wanda übergeben.
    »Was ist das?«, flüsterte Wanda. Bevor sie das Buch genauer untersuchen konnte, drängte Marie sie erneut, es zu verstecken. Erst nachdem Wanda die Kladde zwischen ihr Mieder und das Oberteil ihres Kleides geschoben hatte, beruhigte sich Marie ein wenig. Ihre Unruhe war ansteckend, denn nun warf auch Wanda immer wieder Blicke zur Tür. Jeden Moment konnte der Drachen mit einem Frühstückstablett hereinkommen. Es war fast ein Wunder, dass er noch nicht aufgetaucht war.
    »Das ist mein Tagebuch«, flüsterte Marie. »Ich habe es seit Anfang des Jahres geschrieben. Seit ich hier eingesperrt bin.«
    »Eingesperrt?« Wanda runzelte die Stirn. Fantasierte Marie etwa schon wieder?
    Marie hob abwehrend die Hand, als wolle sie weiteren Fragen entgegenwirken. »Ich weiß, dass sich das verrückt anhört. Doch was du zu lesen bekommst, ist noch schlimmer. Aber es ist die Wahrheit.« Sie sprach schnell und atemlos. »Es drängt mich so sehr, dir alles selbst zu erklären! Aber ich rede derzeit wohl so viel dummes Zeug, dass es dir wahrscheinlich schwerfallen würde, mir zu glauben. Vielleicht ist es besser, wenn du alles erst einmal liest. Danach kannst du mir ja noch Fragen stellen. Was da drinsteht, ist die Wahrheit, nichts als die Wahrheit!« Während der letzten Worte war Marie lauter geworden, und ihre Brust bebte wie nach einem schnellen Lauf.
    Wieder einmal fühlte sich Wanda überfordert. Es war nicht gut, dass Marie sich so aufregte, so würde das Fieber gewiss nicht sinken. Sie wies warnend in Richtung Tür.
    »Denk an den Drachen!« Wo um alles in der Welt solltesie das Tagebuch lesen? Wenn sie nicht bis heute Nacht warten wollte, würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als sich in die Toilette einzusperren.
    Marie lächelte müde. »Mir ist schon wieder so schwindlig …« Ihr Blick flog durchs Zimmer, es kostete sie Mühe, sich wieder auf Wanda zu konzentrieren. »Wenn du gelesen hast, was hier los ist, wirst du meine Bitte verstehen.« Bei den letzten Worten begann ihre Unterlippe zu zittern.
    »Was für eine Bitte?« Mit jedem Satz aus Maries Mund war es Wanda flauer im Magen geworden. Ein Alptraum. Sie war in einen Alptraum geraten. Dieses Wasser ist zu tief für mich! , schrie alles in ihr. So gut kann ich nicht schwimmen!
    »Was für eine Bitte?«, wiederholte sie. Der Anblick von Marie, die sich so quälte, war fast mehr, als sie ertragen konnte.
    »Du musst Sylvie mitnehmen. Nach Lauscha. Sie darf unter keinen Umständen hierbleiben. Hörst du? Unter keinen Umständen! Lass dich von nichts und niemandem aufhalten!«
    Hatte sie richtig gehört? »Aber wie …«, hob Wanda an.
    Im nächsten Moment wurde die Tür aufgestoßen. Als Patrizia sah, wie aufgeregt Marie war, wurde sie sehr wütend und überschüttete Wanda mit Vorwürfen. Doch weder sie noch Marie kümmerten sich um den Drachen, jede versuchte in den Augen der anderen zu lesen.
    »Versprichst du mir das?«, fragte Marie erneut eindringlich.
    Wanda nickte. Wie hätte sie es ablehnen können?

    Als Marie das nächste Mal eingeschlafen war und Patrizia den Raum verlassen hatte, nestelte Wanda das Tagebuch aus ihrem Leibchen. Durch die Körpernähe war es ganz warm geworden, und sie hatte einen Moment lang Angst, die Tinte könnte gelitten haben. Doch als sie die erste Seiteaufschlug, sah sie Maries unverkennbare Schrift mit den tiefen, geschwungenen Bögen und den etwas zu groß geratenen Anfangsbuchstaben.
    Mittwoch, den 14. Januar. Heute vor einer Woche verließ ich das Paradies. Heute vor einer Woche habe ich erfahren, dass mein Mann, mein »geliebter Gatte«, kein Ehrenmann, sondern ein Mörder ist.
    Wanda erstarrte.
    Es folgte eine ausführliche Schilderung dessen, was Marie in jener Schicksalsnacht an der Bürotür mitbekommen hatte. Dann, ein paar Seiten weiter, hieß es:
    Noch immer kann ich es nicht fassen. Alles in mir wehrt sich gegen dieses Wissen. Nacht für Nacht habe ich neben einem Mörder gelegen, habe seine Liebkosungen genossen. Vielleicht war er schon schuldig am Tod von Menschen, als ich mich in ihn verliebte? Die Vorstellung bringt mich fast um den Verstand.
    Wie konnte ich mich so sehr in ihm täuschen? Immer und

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