Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Amerikanerin

Die Amerikanerin

Titel: Die Amerikanerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Durst-Benning
Vom Netzwerk:
Atem stockte immer wieder, sie bewegte sich unruhig hin und her.
    Die Miene des Arztes war nach seiner letzten Visite noch sorgenvoller gewesen. Mit eindringlichen Worten hatte er auf dem Flur auf Patrizia eingeredet. Kurz darauf hatte Patrizia eigenhändig Sylvies Wiege aus dem Zimmer geschoben. Dann stellte sie neben Maries Bett auf dem Nachttisch eine Kerze auf. Wenig später erschien ein schwarz gewandeter, sehr alter Priester. Auf Lateinisch las er Marie aus der Heiligen Schrift vor. Weihrauchdunst füllte bald den stickigen Raum.
    Zusammen mit dem Conte und Patrizia stand Wanda am Fußende von Maries Bett. Obwohl sie einer solchen Zeremonie noch nie beigewohnt hatte, wusste sie, was sie bedeutete: Es war die Letzte Ölung. Durch das Totenöl sollte der Sterbenden Gott nahegebracht werden, durch das Gebet sollte sie Trost erfahren. Die Sterbende … alles in Wanda wehrte sich gegen diese Gewissheit.
    »Marie, liebste Marie, du darfst nicht sterben«, flüsterte sie, als der Priester zusammen mit Patrizia das Zimmer verlassen hatte, und ihr Herz krampfte sich angstvoll zusammen. »Bleib bei uns, bitte. Wir lieben dich. Und wir brauchen dich. Ich … weiß nicht, ob ich so stark bin, wie du glaubst.«
    Sie streichelte Maries Wange. Als sie sich nach vorn beugte, drückte das Tagebuch, das sie wieder in ihrem Leibchen versteckt hatte, gegen ihren Bauch. Das Wissen, welches Unrecht Marie angetan worden war, hatte sich nur kurz verdrängen lassen.
    Wie scheinheilig Patrizia neben dem Pfarrer gestanden hatte … Mit größter Anstrengung war es Wanda gelungen, ruhig zu bleiben. Sie musste an Marie denken. Und an das, was sie zu ihr gesagt hatte: Sie solle ihr Wissen im Sinne von Sylvie einsetzen. Wanda ahnte inzwischen, was sie damitgemeint hatte, auch wenn sich alles in ihr gegen diese Ahnung sträubte.
    Marie schlug die Augen auf. Sie hatten einen seltsamen Glanz, den Wanda noch nie gesehen hatte. Es war, als glühten sie von innen.
    »Wanda, Liebes … Ich möchte dir noch so viel sagen. Aber … zu schwach. Du … musst Sylvie nach Lauscha bringen. Hast es mir versprochen. Meine Tochter soll unter Glasbläsern aufwachsen und nicht … unter Mördern.«
    »Sie soll mit dir aufwachsen!«, rief Wanda verzweifelt.
    »Bald bist du wieder gesund, nur das Fieber muss noch weggehen.«
    Marie schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Nicht das Fieber geht. Ich gehe.«
    Und sie schloss zum letzten Mal die Augen.

31
    Die Beerdigung fand bereits am nächsten Tag statt. Das war in Italien so üblich, erklärte die Contessa einer erschütterten, tränenüberströmten Wanda.
    Keine Zeit, um in Lauscha Bescheid zu geben. Keine Zeit, um Johanna und Peter und Magnus zu Maries Beerdigung kommen zu lassen. Keine Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Marie tot war. Schöne Marie. Marie mit dem Glitzerstaub im Gesicht.
    Es war nur eine kleine Gruppe von Menschen, die der Beisetzung beiwohnte: der Conte und seine Frau, Carla und noch eines der Zimmermädchen und Wanda. Sylvie war in der Obhut der Amme, Franco in Amerika im Gefängnis, wo ihn bisher niemand vom Tod seiner Frau hatte unterrichten können.
    Der Friedhof war anders als die, die Wanda aus New Yorkkannte. Und anders als der in Lauscha. Mit starrem Blick sah Wanda zu, wie Maries Sarg in ein Fach in einer riesigen steinernen Wand geschoben wurde. In ein Fach von vielen, mit einer eilig eingemeißelten Inschrift. Daneben gab es in Reih und Glied zahllose weitere Fächer mit Toten. Keine Blumen, keine Kreuze, kein »Asche zu Asche, Staub zu Staub«, kein Zurückkehren in den Schoß der Mutter Erde. Der Boden war zu steinig, als dass man ihm die Toten hätte übergeben können.
    Es war nicht gut, dass Marie hier beerdigt wurde – ihr Zuhause war Lauscha. Dieser Gedanke tauchte irgendwo in Wandas Hinterkopf auf, doch angesichts der Eile, die an den Tag gelegt wurde, schaffte er es nicht, bis in ihr Bewusstsein vorzudringen. Vielleicht … wenn Mutter an ihrer Seite gewesen wäre oder Johanna – die beiden hätten bestimmt nicht zugelassen, dass Marie … Doch es war niemand da, und Maries Leichnam ruhte nun in der steinernen Wand.

    Der Abschied war knapp und undramatisch. Die Contessa und ihr Mann reichten Wanda steif die Hand. Zu Wandas Erstaunen hatte der Conte eine Kutsche kommen lassen, die sie samt Kind und Gepäck zum Bahnhof brachte – so viel »Hilfsbereitschaft« hätte sie ihm gar nicht zugetraut. Er begleitete sie sogar. Am Bahnhof suchte er den

Weitere Kostenlose Bücher