Die Amerikanerin
richtigen Zug aus. Im Abteil, in dem der Conte zwei Plätze für sie hatte reservieren lassen, richtete sich Wanda mit Sylvie ein.
Mit leerem Blick starrte sie aus dem Fenster des Zuges. Obwohl er sehr langsam fuhr, nahm sie nichts von der monumentalen Bergwelt der Alpen wahr. Nach den Anstrengungen der letzten Tage war sie erschöpft wie nie zuvor in ihrem Leben. Jeder Gedanke bereitete ihr Anstrengung, und dennoch wollte das quälende Gefühl, alles falsch zu machen, nicht schwinden.
Wie hatte sie zulassen können, dass Marie in Genua beerdigt wurde? Hätte sie nicht darauf bestehen müssen, dass Marie verbrannt und ihre Asche nach Lauscha überführt wurde? So etwas von Deutschland aus zu regeln würde sicherlich sehr kompliziert werden. Noch größere Vorwürfe erwartete Wanda allerdings angesichts der Tatsache, dass sie die Daheimgebliebenen nicht in einem Telegramm über Maries Tod informiert hatte. Doch wie hätte sie dieses schreckliche Ereignis in zwei knappe Sätze fassen sollen?
Und da war noch eine ganz andere, eine sehr akute Sorge.
Vor ein paar Minuten war der Schaffner da gewesen, um die Reisenden auf die bevorstehende Passkontrolle an der italienisch-österreichischen Grenze vorzubereiten.
Was, wenn die Grenzbeamten etwas an Sylvies Papieren auszusetzen hatten? Was, wenn alles, was sie in den letzten Tagen auf sich genommen hatte, an einem sturen Beamten scheiterte, der beim Anblick eines jungen Mädchens mit einem Säugling Argwohn schöpfte?
Wanda warf einen Blick auf das schlafende Kind in dem Tragekorb, der auf dem Sitz neben ihr stand. Wie sie die Hände zu kleinen Fäusten ballte, als wolle sie sich gegen die böse Welt zur Wehr setzen! Dabei gab es keine Kraft der Welt, die etwas gegen das Schicksal ausrichten konnte …
Die eigenwillige, schöne Marie war tot.
Wanda schloss die Augen und wartete, bis der Schmerz verebbte. Wenn sie jetzt um Marie trauerte, würde sie nicht mehr aufhören können zu weinen. Sie musste sich zusammenreißen, ihre Trauer verschieben, es zumindest versuchen. Sie holte tief Luft. Bisher war alles gutgegangen, und sie musste dafür Sorge tragen, dass es so blieb.
Sollte sie Sylvie in dem Moment wecken, wenn die Beamten das Abteil betraten? Männer mochten kein Kindergeschrei, vielleicht würde die Passkontrolle dann umso schneller beendet sein? Womöglich aber wurden dieBeamten so erst recht auf die junge Mutter mit ihrem Kind aufmerksam. Wanda versuchte, im Fenster ihr Spiegelbild zu erhaschen, doch das blasse Morgenlicht verhinderte dies. Aber sie wusste auch so, dass keine Schminke und kein noch so strenges Kostüm sie über Nacht zehn Jahre älter aussehen ließen. Eine ältere Frau mit Kind wäre vielleicht nicht so aufgefallen. Sie jedoch …
Die Blicke der Leute auf dem Bahnsteig hätten kaum abfälliger sein können. Wie sie alle geglotzt hatten! Keiner der Männer hatte ihr geholfen, den schweren Korb mit dem Baby, ihren Koffer und die Reisetasche in den Zug zu hieven, und die wenigen Frauen, die auf dem Bahnhof gewesen waren, hatten sie auch nur mit schrägen Blicken gestreift. Was wussten sie denn schon, die Leute?
Alle paar Minuten beugte sich Wanda über den Babykorb. Die Kleine schlief. Alles schien in Ordnung zu sein: Ihre Wangen waren rosig, aber nicht zu sehr gerötet. Die kleinen halbrunden Schatten unter ihren Augen schienen von dem Wimpernkranz herzurühren, der für einen Säugling erstaunlich dicht war – Maries Tochter war ein außergewöhnlich schönes Kind.
Bisher war sie eine vorbildliche Reisebegleitung gewesen: Kaum hatte der Zug zu ruckeln begonnen, war sie eingeschlafen. Wachte sie auf, gab Wanda ihr eines der Fläschchen, die die Amme mit Milch gefüllt hatte. Auch das Windelnwechseln funktionierte so, wie die Amme es Wanda gezeigt hatte. Sie wusste allerdings nicht, ob sie das Kind zur Ruhe bringen konnte, wenn es erst einmal richtig zu schreien begann.
Nicht so viel denken. Eins nach dem anderen. Bisher war alles gutgegangen.
Mit zitternder Hand holte sie ihren Pass und Sylvies Papiere aus der Tasche. Wie viele Drohungen waren notwendig gewesen, um an die Ausweise zu kommen!
Und dabei hatte Wanda nach der Beerdigung nichts anderes gewollt, als sich in eine Ecke zu setzen und nicht mehr aufzuhören zu heulen. Stattdessen hatte sie dem Conte so lange damit gedroht, Maries Aufzeichnungen der Öffentlichkeit und den Behörden zugänglich zu machen, bis er ihrer Forderung nachgab. Insgeheim hatte sie sich darüber
Weitere Kostenlose Bücher